Im Sommer 1988 umwanderte Wissenschaftsmalerin Cornelia Hesse-Honegger die Schweizer Atomkraftwerke Gösgen und Leibstadt im Kanton Aargau und sammelte, untersuchte und malte Blattwanzen.

Foto: Cornelia Hesse-Honegger

Deutlich zu sehen sind bei der Weichwanze der kürzere, rechte Deckflügel und der fehlende Fühler.

Foto: Cornelia Hesse-Honegger

Als es am 26. April 1986 im Reaktor des AKWs Tschernobyl zur Kernschmelze kam, malte die Schweizerin Cornelia Hesse-Honegger bereits ein Jahr lang Stubenfliegen, die man zu Forschungszwecken radioaktiv bestrahlt hatte. Seit den späten Sechzigern war sie an der Universität Zürich als naturwissenschaftliche Zeichnerin tätig, hatte Detailbilder von Drosophila-Fliegen für Dissertationen und Bücher angefertigt - zum Großteil für taxonomische Arbeiten, also zur Klassifikation einzelner Insekten. Unter ihren "Modellen" waren aber auch mutierte Fliegen, da ihr Professor Genetiker war. Daneben arbeitete sie aus eigenen Stücken und malte abseits der Auftragsarbeiten, was sie besonders faszinierte: Wanzen. Nach Tschernobyl begann sie sich verstärkt für Radioaktivität zu interessieren und für die Blattwanzen in den Fallout-Gebieten.

Systematische Suche

Hesse-Honegger unternahm selbstfinanzierte Forschungsreisen nach Schweden und ins Tessin, später auch in die unmittelbare Umgebung von Tschernobyl. Zunächst sammelte sie die Insekten nach dem Zufallsprinzip. Mit der Zeit und nach der Kritik von Wissenschaftern ging sie systematischer und präziser vor, berücksichtigte Windrichtungen, grenzte die Gebiete der Insektenentnahme genauer ein und entnahm Vergleichsproben aus nichtverstrahlten Gebieten. Mit ihrem Ansatz, Wanzen und Fliegen in Fallout-Zonen auf äußerliche Schäden zu untersuchen, war sie jedenfalls allein auf weiter Flur. Nur in Schweden, so berichtet sie, sei ein Wissenschafter per Zufall auf eine höhere Mutationsrate bei Insekten gestoßen.

Angesprochen auf die ästhetische Komponente ihrer Bilder, meint Hesse-Honegger, dass es ihr fernliege, den Betrachter zu manipulieren. Sie werte nicht, ob die abgebildeten Insekten an sich schön oder hässlich seien, vorderstes Anliegen ist ihr das möglichst detailgetreue Abbilden dessen, was sie unter dem Mikroskop sieht. Seh-Forschung heißt das bei Hesse-Honegger. Bei aller schweizerischen Bescheidenheit sieht sie sich dabei in der Tradition der Wissenschaftsmaler, von Galileo Galileis Mondphasen über den seine eigenen Naturforschungen illustrierenden Eidgenossen Conrad Gesner bis hin zu Maria Sybille Merian. Die Funktion ihrer Kunst liege im Bewusstmachen, im Hereinholen von Ahnungen in die Realität, so Hesse-Honegger. Kunst beschreibe das noch nicht gänzlich Fassbare, wohingegen die Illustration in der Regel schon allgemein Bekanntes abbildet.

In diesem Sinne will die Zeichnerin mit ihrer "Wissenskunst" auch die Auswirkungen des regulären Betriebs von AKWs aufzeigen. In der Schweiz und in Deutschland konnte sie morphologische Schäden an Insekten nachweisen, deren Lebensraum sich in unmittelbarer Umgebung von Atomkraftwerken befindet. Die niedrigen Strahlenmengen, die die Wanzen über ihre Wirtspflanzen beständig aufnehmen, gehen an den Tieren nicht spurlos vorbei. Die Schäden an Panzern, Flügeln und Köpfen ähnelten jenen, die zuvor schon in stark belasteten Zonen feststellbar waren. Auf ähnliche Phänomene stieß Hesse-Honegger später auch rund um die Wiederaufbereitungsanlagen Sellafield und La Hague sowie bei ehemaligen Testgeländen und Plutoniumfabriken in den Vereinigten Staaten.

16.000 Wanzen und Fliegen

Die für Ausstellungen angefertigten Drucke sind deutlich größer als die in Aquarell gemalten Originale, die in aufwändiger und akribischer Feinarbeit entstehen. Es dauert einen Monat, bis die nur wenige Zentimeter große und maßstabsgetreue Zeichnung eines Insekts fertiggestellt ist. In den letzten zweieinhalb Jahrzehnten hat Hesse-Honegger von den über 16.000 Wanzen und Fliegen, die sie in Europa und den USA gesammelt hat, etwa 300 gemalt. Einige davon sind nun beim Ars-Electronica-Festival in Linz im Rahmen des Themenblocks Repair the Environment zu sehen. (Wolfgang Schmutz, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20. August 2010)