Der Schein trügt zuweilen. Dies gilt auch für vorgeblich unbestechliche Techniken wie die Mikroskopie. Bilder, die in Licht- oder Elektronenmikroskopen produziert werden, sind oft voll von (unbekannten) Artefakten. Das sind Effekte, die durch die Vorbehandlung von Zellen und Geweben entstehen können: Fixieren, Färben, Trocknen, Quetschen. Daher sind hochauflösende Mikroskopaufnahmen nicht immer ein Abbild der Wirklichkeit. Vic Small, der mit spektakulären Aufnahmen aus dem Zellinneren schon mehrfach für Aufsehen sorgte, hat ein Rezept gegen irreführende Artefakte gefunden: Erst studiert er zu Vergleichszwecken eine lebendige Zelle im Lichtmikroskop, dann kühlt er sie mit einer Rate von minus 10.000 Grad pro Sekunde ab. Die Zelle erstarrt zu Eis. Diese gläserne Momentaufnahme des Lebens kann danach im Elektronenmikroskop analysiert werden.

Bei einer speziellen Spielart der Elektronenmikroskopie - Kryo-elektronentomografie genannt - werden die unterkühlten Zellen gedreht und aus verschiedenen Winkeln aufgenommen. So entstehen dreidimensionale Bilder, beispielsweise von Aktin-Filamenten.

Diese fadenförmigen Proteinstrukturen organisieren sich innerhalb eines Fortsatzes (Scheinfüßchen) zu einer Art Zellmotor, der die Zelle nach vorn drücken kann. Wie die Filamente in dieser Phase aussehen, ist momentan strittig. Bilden sie zum Beispiel feine Verästelungen aus? Vic Small ist überzeugt, dass die Aktinbündel in lebenden Zellen nicht verzweigt sind, sondern einfach nur übereinanderliegen.

Irritation in der Community

Anhänger der vorherrschenden Lehrmeinung sehen das ganz anders. "Die Scientific Community ist verwundert, denn viele Daten, gewonnen durch unterschiedliche Techniken und Ansätze, deuten durchaus darauf hin, dass die Filamente verzweigt sind", berichtet Tatyana Svitkina. Die Forscherin von der University of Pennsylvania beschäftigt sich wie ihr Konkurrent Small seit Jahren intensiv mit Aktin-Filamenten und Zellmigration. "Wenn Smalls Paper ernst genommen wird, könnte dies den wissenschaftlichen Fortschritt aufhalten", befürchtet die Expertin für Elektronenmikroskopie.

Paul Forscher von University of Yale sieht die Debatte positiver. Auch er findet die Publikation von Victor Small "ziemlich provokant, aber von hoher Qualität" und hofft, dass die neuen Befunde Impuls für eine Aufklärung des Aktin-Netzwerks sind.

Nicht nur Gelehrte, sondern auch die Öffentlichkeit dürften Interesse daran haben, welchen Lauf die Kontroverse nimmt. Mit der richtigen Methode soll unter anderem aufgeklärt werden, wie sich Immunzellen fortbewegen, wie Wundheilung funktioniert oder mit welchen Mitteln wandernden Tumorzellen Einhalt geboten werden kann. (Julia Harlfinger/DER STANDARD, Printausgabe, 18.08.2010)