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Dimitré Dinev ist in Plowdiw, Bulgarien geboren. Seit 1990 lebt und arbeitet er in Wien.

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daStandard: Wann haben Sie zu schreiben begonnen?

Dinev: Als ich sechzehn war, haben wir gerade "Krieg und Frieden" in der Schule behandelt. Ich wusste, dass wir eine Klassenarbeit über das Buch schreiben müssen, hatte es aber nicht gelesen. Ich habe ein Mädchen gebeten, mir wenigstens die Handlung zu erzählen, und dabei wurde mir bewusst, dass ich darüber nichts Ordentliches schreiben konnte, es war viel zu komplex. Zu Hause überlegte ich, was ich tun könnte. Mir sind Reime eingefallen, also habe ich mich hingesetzt und ein Gedicht geschrieben. Die Literaturprofessorin war vergnügt, hat mich aber gezwungen, die Arbeit noch einmal zu schreiben. Das Problem dieser Aktion war, dass ich fälschlicherweise angenommen hatte, es wäre leicht, Gedichte zu schreiben. Erst später wird einem bewusst, was man da eigentlich macht, aber dann ist es schon zu spät, dann ist man schon infiziert. Es hat also alles mit einem Betrug begonnen.

Es gab aber noch etwas: Ich war auf einer Eliteschule und die meisten Kinder aus meiner Klasse waren aus Familien, die auf der sozialen Leiter ziemlich hoch standen; die Macht hatten. Literatur war für mich eine Möglichkeit auch Macht zu haben, etwas zu können, was die anderen nicht können. Ein Bub aus meiner Klasse hat mit seinen neuen Jeans, die er von seinem reichen Vater geschenkt bekommen hat, die Mädchen sehr beeindruckt. Ich habe aber entdeckt, dass ein Gedicht eine Frau noch mehr beeindrucken kann als etwa Jeans aus dem Westen (lacht). Und das war irgendwie eine Art Gerechtigkeit.

In Ihrem Roman Engelszungen rollen Sie die Geschichte Bulgariens auf. Welche Bedeutung hat dies für Sie persönlich?

Dinev: Man schreibt viel leichter über die Vergangenheit, sie bietet mehr Stoff als die Gegenwart, ist viel reicher. Sie ist unser Vermögen. In dem sie Vergangenheiten austauschen, lernen sich auch die Menschen besser kennen. Der Blick zurück führt ins Unendliche, in der Zukunft dagegen lauert der Tod.
Ich wollte zeigen, dass jede Person kometengleich eine riesige Geschichte hinter sich her schleppt. Wenn man diese Geschichten nicht nutzt, wenn sie anonym bleiben, wenn man dieses breite Spektrum an Wissen nicht positiv in Erzählungen einfließen lässt, könnte etwas Wichtiges, etwas Entscheidendes, könnten ganze Welten verloren gehen. Es stimmt mich melancholisch, was alles durch unsere Gleichgültigkeit und unser Desinteresse verloren geht.

Warum haben Sie sich entschieden, in ihrem Buch "Barmherzigkeit" zum ersten Mal konkret aus Ihrem Leben zu erzählen?

Dinev: Das hat mit dem Begriff Barmherzigkeit zu tun. Ich glaube, dass man bestimmte Begriffe nur so vermitteln kann. Wenn man über Barmherzigkeit redet, muss man anfangen, über sich selbst zu reden, denn sie ist immer konkret und nie anonym. Sie charakterisiert uns als Individuen. Es geht um die Verantwortung, die man gegenüber dem Anderen hat und sie ist nicht übertragbar. Niemand kann mich da ersetzen. In der Bibel wurde die Barmherzigkeit auch narrativ über Geschichten vermittelt und nicht über Abstraktionen.

In Barmherzigkeit sagen Sie "Jede Staatsgründung ist ein Gewaltakt". Welchen Einfluss hat Ihrer Meinung nach der imaginäre Begriff der Nation auf das Zusammenleben in der Gesellschaft?

Dinev: Jede Staatsgründung ist deswegen ein Gewaltakt, weil es immer Benachteiligte gibt. Eine Staatsgründung ist immer mit Anhäufung von Schuld verbunden. Sie hinterlässt Wunden und ist nie harmonisch, weil man ein Territorium betritt und sagt, das ist unseres. Aber wieso? Es ist die Erde, wem gehört sie?

Und warum braucht man die Idee einer Nation? Um sich abzugrenzen, und nicht um sich auszuweiten. Die Ausgrenzung gibt ein Gefühl der Sicherheit. Alle diese Themen vermitteln eine Gefahr. Man gründet eine Nation, weil es eine Gefahr gibt. Natürlich spielt das Überleben eine Rolle, aber all dem liegt ein kriegerisches Denken zugrunde. Denn alle diese Fragen wie zum Beispiel "Was ist man jetzt, Bulgare oder Österreicher?" basieren ausschließlich auf solch einem Denken. Ich würde gern erleben, dass sich das ändert.

Welche Rolle spielte die edition exil für Ihre Positionierung im österreichischen Literaturbetrieb?

Dinev: Sie spielte eine wichtige Rolle, da dort unter anderem mein erstes Buch erschienen ist und ich so endlich etwas in der Hand hatte, was ich zum Beispiel auch verschicken konnte. Die edition exil ist ein sehr kleiner Verlag und eigentlich denkt man, wenn man über den Verlag spricht, an Christa Stippinger. Christa hat mir als erste die Möglichkeit gegeben, ein Buch zu publizieren, sie hat sehr viel für meine Sozialisation als Autor gemacht. Leider ist die edition exil sehr klein und wird nur am Rande wahrgenommen. Wenn man sich um Integration bemüht, sollte man dem Verlag mehr Platz einräumen, medial zum Beispiel. Beide Seiten sollten ihren Beitrag leisten. Ich als Autor, der ein deutsches Buch schreibt, der Staat, die Gesellschaft und die Medien, die dieses wahrnehmen, besprechen, rezensieren.

Der problematische Begriff "MigrantInnenliteratur" wird von Christa Stippinger auch als Chance gesehen, AutorInnen in einem konkreten Rahmen die Möglichkeit zu geben, wahrgenommen zu werden. Wie sehen Sie das?

Dinev: Der Begriff an sich ist sehr problematisch, unnötig und diskriminierend. Was soll so ein Begriff überhaupt in der Literatur und wozu dient er? Ihn zu verwenden ist die schlechteste Werbung, die man machen kann. Geredet wird immer von Integration, man soll die Sprache lernen. Dann lernt man sie und beherrscht sie so gut, dass man mit ihr Literatur machen kann, und wird erst wieder zum Migranten gemacht. Viele bekannte Autoren und Autorinnen haben im Ausland geschrieben. Warum ist es jetzt notwendig, einen Begriff dafür zu finden?

Ich frage mich auch, welche Merkmale MigrantInnenliteratur auszeichnen? Man spricht ja auch nicht von den "Migrationsbildern" von Chagall oder den "Migrationssymphonien" von Schönberg. Wir sollten uns von diesen Ideologien befreien und Begriffe, die in den tagespolitischen Diskursen negativ besetzt sind, meiden.

Und zuletzt: Haben Sie schon ein neues Projekt? Welche Themen interessieren Sie zur Zeit?

Dinev: Die Themen bleiben immer dieselben. An sich ist der Mensch mein Thema. Seine Schwächen, Niederlagen, seine Dummheit, aber auch seine Güte und Größe und die Macht, die den Menschen und sein Bewusstsein verändert. Ich habe vor einen zweiten Roman zu schreiben. Barmherzigkeit wird eine Rolle spielen, aber ich habe mehrere Ideen. Es würde mich auch reizen, aus der Sicht des Kindes zu schreiben, kein Kinderbuch, aber aus dieser besonderen Perspektive, die irrational, sehr naiv und dadurch sehr ungezwungen poetisch sein kann. (Manuela Beiglböck, Kerstin Bogensberger, Daniela Pingist, Esther Wratschko*, 17. August 2010, daStandard.at)