"Der Staatsschauspieler": das Cover des neuen Buches von Regimekritiker Yu Jie.

Foto: Erling

Yu Jie, Buchautor und Kritiker von Chinas Premier Wen Jiabao.

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Die Staatssicherheit hat Yu Jie bereits gewarnt. Die Veröffentlichung wird zum Testfall. 

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Der Offizier der Staatssicherheit kommt beim Verhör von Yu Jie erst nach zwei Stunden auf sein wahres Anliegen zu sprechen: Er wisse, dass der oppositionelle Autor ein Buch über Chinas Premier Wen Jiabao unter dem provozierenden Titel Der Staatsschauspieler in Hongkong veröffentlichen wolle. Yu Jie solle das besser bleiben lassen. Der 37-Jährige widerspricht: Kritik zu üben, an wem auch immer, sei sein Recht als Bürger. Die Verfassung garantiere es. Und: "Falls Premier Wen mein Buch nicht gefällt, kann er mich kritisieren oder vor Gericht wegen Rufschädigung anklagen."

Was folgte, ist eine deutliche Warnung: Hier gehe es nicht um normale Bürger - Kritik am Premier bedrohe die Staatssicherheit. "Wenn dich jemand anklagt, wird es nicht Wen sein, sondern der Staat. Es ist dann auch kein Zivilverfahren, sondern ein Strafgerichtsprozess."

"Wie Liu Xiaobo"

Die verbale Verwarnung war nur das Vorspiel. Das Verhör an diesem 5. Juli dauerte viereinhalb Stunden, erinnert sich Yu Jie. Sie luden ihn vor, weil "ich unvorsichtig war: Ich hatte über Twitter Freunden mitgeteilt, dass mein Buch über Wen bald erscheint." Die Polizei machte ihm klar, dass es ihm wie dem Dissidenten Liu Xiaobo ergehen könnte, wenn er das Buch veröffentliche.

Vergangenen Dezember war Liu wegen "Untergrabung der Staatssicherheit" zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Das Gericht legte ihm die Mitverfasserschaft am Freiheitsaufruf "Charta 08" und sechs Internetartikel zur Last.

"Ich habe bisher 29 Bücher und 1500 Internetartikel verfasst", sagt Yu Jie. Der Offizier, der ihn verhörte, drohte unverblümt: "Ich beobachte dich seit zehn Jahren." Er habe alle Bücher, Artikel, Interviews mit Ausländern von Yu Jie gelesen. Er kenne auch dessen Rolle als christlicher Aktivist in Chinas Hauskirchenbewegung, die Yu Jie so bekannt machte, dass dieser mit zwei anderen Christen 2006 von US-Präsident George W. Bush empfangen wurde.

Ein Jahrzehnt Berufsverbot

Die Vorladung bei der Polizei verfehlte ihre Abschreckung auf Yu Jie, der seit 2000 Berufsverbot hat und seit 2004 nicht innerhalb der Volksrepublik veröffentlichen darf. "Ich kann schon hier nicht mehr publizieren. Jetzt soll ich es auch in Hongkong nicht mehr dürfen." Am Montag erscheint Yu Jies Buch über Premier Wen im Hongkonger Verlag New Century.

Pekings Reaktion wird zum Testfall, ob die Behörden wie bisher Oppositionelle ignorieren, die in Hongkong publizieren - oder ob sie an Yu Jie ein Exempel statuieren. Peking hat bisher nicht verhindert, dass systemkritische Bücher in Hongkong erscheinen. Hongkong gehört zwar seit 1997 zur Volksrepublik, darf aber als eigenes Verwaltungsgebiet seine demokratische Struktur behalten.

Bei New Century hat sich Verlagschef Bao Pu, Sohn des einst hohen Regierungsfunktionärs Bao Tong, der heute als Dissident in Peking lebt, auf politisch besonders heikle Bücher spezialisiert. Bao Pu bestätigte, dass Yu Jies Buch mit einer Startauflage von 5000 Exemplaren erscheint.

In seinem Buch kommentiert Yu Jie die Rolle, die Chinas Premier in den acht Jahren seit Amtsantritt gespielt hat. Im Westen und in China machten sich zu viele Illusionen über Wen als angeblich aufgeklärten Reformer. Sein "positives Image" habe stark mit seinen Krisenbesuchen vor Ort zu tun, wie beim Erdbeben 2008. Der Premier habe den Opfern Erklärungen versprochen, etwa für eingestürzte Schulen, aber er blieb sie bis heute schuldig. Niemand sei wegen Korruption und Pfusch bestraft worden, wohl aber kritische Aktivisten, die genau dieses forderten.

Solche Beispiele hätten dem Premier im Internet schon den Spottnamen "Schauspieler" eingebracht. Tatsächlich spiele er nur eine Rolle - im Tandem mit Parteichef Hu Jintao die des gütigen ersten Ministers an der Seite des strengen Kaisers - eine Rollenverteilung, die im autokratisch regierten China herrschaftsbewahrende Tradition hatte. Yu Jies Schlussfolgerung: Ministerpräsident Wen setze sich nicht wirklich für politische Reformen und eine Demokratisierung des Systems ein. (Johnny Erling, DER STANDARD, Printausgabe 16.8.2010)