Wer heute voraussagt, dass die Panik über die Lungenkrankheit Sars in einigen Wochen ebenso abflauen wird wie die Epidemie selbst, geht mit seiner Prognose kein großes Wagnis ein. Im Vergleich zu anderen Krankheiten, die weltweit ihr Unwesen treiben, ist Sars weder allzu weit verbreitet noch besonders lebensbedrohlich. Die gewaltige psychologische Kraft des Virus kommt daher, dass man bis vor kurzem so wenig über es wusste - auch deshalb, weil China die Seuche monatelang vertuscht hat und erst seit kurzem mit internationalen Behörden zusammenarbeitet.

Plötzlicher Kurswechsel Der plötzliche Kurswechsel der chinesischen Führung unter ihrem neuen Präsidenten Hu Jintao könnte ein Vorzeichen für einen grundsätzlichen Wandel sein, der sich als wichtigstes Erbe von Sars erweisen könnte. Sars mag zwar nicht, wie der Economist in seiner jüngsten Ausgabe suggeriert, zum Tschernobyl der neuen chinesischen Führung werden, aber die Analogien zur Nuklearkatastrophe vor genau 17 Jahren sind frappant.

Auch damals war ein neuer Machthaber eines versteinerten kommunistischen Systems mit einem Hang zur Geheimniskrämerei konfrontiert, die dieses massiv infrage stellte. 1986 beschleunigte Tschernobyl den Vertrauensschwund der Regimes, zwang Gorbatschow zu noch mehr Glasnost und läutete so das Ende des Sowjetkommunismus ein. Sars erwischt China in einem weniger kritischen Moment, doch ist die Krankheit ein Teilaspekt eines größeren Trends, der das Reich der Mitte im vergangenen Jahrzehnt grundlegend verändert hat - der Globalisierung.

Erfolgsgeschichte der Globalisierung

China ist die eine große Erfolgsgeschichte der Globalisierung. Die Einbindung des Landes in die internationale Wirtschaft hat in einer Generation Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut befreit und aus der blauen Armee der Mao-Jünger eine konsumverliebte Mittelschicht gemacht - vor allem in den Großstädten.

Es ist genau diese urbane Elite, die nun von Sars in ihren neuen Chancen getroffen wird. Das anfängliche Versagen des Regimes bei Sars bricht damit den ungeschriebenen Vertrag, den die KP nach der Niederschlagung der Protestbewegung mit seinen Bürgern geschlossen hat: Verzicht auf Demokratie im Gegenzug für mehr Wohlstand und Lebensqualität.

China musste in der Sars-Krise auch erkennen, dass in einer Welt des Handels, der Geschäftsreisen und des Fremdenverkehrs ein solches Problem weder vor der Welt verschwiegen noch ohne internationale Mithilfe gelöst werden kann. Die Absetzung zweier Spitzenpolitiker zeigt, dass Druck von außen weit stärker wirkt als Maos politisches Vermächtnis.

Gesellschaftsvertrag

Allmählich wird auch ein weiterer, noch älterer Gesellschaftsvertrag außer Kraft gesetzt: die Arbeitsplatzgarantie, die "eiserne Reisschüssel", die der riesige Staatssektor bieten sollte. Vor allem der Eintritt Chinas in die Welthandelsorganisation WTO Ende 2001 erzwingt das Aufbrechen der letzten planwirtschaftlichen Strukturen.

Aber auch in der Außenpolitik ist Chinas bisheriger Kurs des pragmatischen Isolationismus nicht mehr aufrechtzuerhalten. Einerseits muss sich Peking der Herausforderung der neuen Weltmachtpolitik der USA stellen, deren missionarischer Demokratisierungsdrang sich auch gegen die KP-Diktatur richten könnte. Andererseits werden die Krisen in seiner Nachbarschaft zunehmend global. Es ist in Chinas eminentem Interesse, dass der atomare Konflikt zwischen den USA und Nordkorea beilgelegt wird, ebenso wie der Konflikt zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir, an dem es selbst beteiligt ist. Dass China nun zwischen Washington und Pjöngjang vermittelt, zeugt von ei- nem neuen Verantwortungsbewusstsein, das für die Region nur positiv sein kann.

All das wird das Land nicht in eine westliche Demokratie verwandeln. Aber hinter dem von Sars verursachten Ausnahmezustand sind die Konturen einer Gesellschaft zu erkennen, die dem heutigen Japan näher steht als selbst dem China der Achtzigerjahre. (Eric Frey, DER STANDARD Printausgabe 26/27.4.2003)