Dokumentaristin Regina Strassegger in Athen: Griechenland befindet sich "in einem Zustand zwischen Skepsis und Agonie".

Foto: ORF/Strassegger

STANDARD: Die meisten Griechenland-Urlauber sagen, sie merken von der Krise gar nichts. Wie ist es Ihnen ergangen?

Strassegger: Ich war natürlich krisenfokussiert aufgrund meines Themas, kann aber die Urlauber verstehen. Wer vom Athener Flughafen in der neuen U-Bahn in die Stadt fährt, merkt überhaupt nichts. Wer in die Realität auftaucht, sieht es sehr wohl. Junge und alte Bettler sind auf den Straßen, jedes dritte Geschäft ist geschlossen - nicht weil sie sich vor Demonstranten verbarrikadieren. Und man spürt es bei den Menschen. Da herrschen große Verunsicherung, Ratlosigkeit, Trauma.

STANDARD:  Klingt noch nicht wirklich nach Katharsis ...

Strassegger: Hier ist es wichtig, dass die Menschen die Chance in der Krise sehen und verstehen, dass sie es sind, die sie verursacht haben. Nicht nur Politiker, auch sie selbst. Steuern zu hinterziehen war normaler Lebensstil.

STANDARD:  Was hat sich in der Kunstszene geändert?

Strassegger: Das war für mich die zentrale Frage: Wie reagieren die Jungen, gleichsam in der Tradition von Mikis Theodorakis & Co? Gibt es aktiven Widerstand? Antwort: Nein. Dieses Land befindet sich in einem Zustand zwischen Skepsis und Agonie. Die Radikalisierung halte ich für extrem gefährlich. Das zeigt der brutale Mord an einem griechischen Journalisten vor wenigen Wochen. Vor wenigen Tagen wurden wieder mit Namen Morde angekündigt.

STANDARD: Wie wirkte sich diese Stimmung auf die Interviews aus?

Strassegger: Die wenigsten wollten vor der Kamera sprechen. Ich habe eine Stunde mit Punks diskutiert, bis sie bereit waren zu reden.

STANDARD: Stichwort Krise: Wie schwer ist es derzeit, solche Dokus beim ORF durchzubringen?

Strassegger: Schwer. Es gibt zwei Oasen im ORF, das sind Religion und Kultur mit Artgenossen und Dokfilm. Die ökonomischen Zwänge sind klar spürbar. Die Produktionsbedingungen haben sich prekär verschlechtert. Durch die Auslagerung der Schnittkapazitäten bei Dokumentationen hat man mit unerfahrenem Personal zu tun, das in Leasingverträgen zu schlechten Konditionen übernommen wurde. Das ist schlicht inakzeptabel. Journalistische Leidenschaft, das sind zwei Worte, die man gar nicht mehr verwenden darf. Die Ökonomisierung ist das Diktat. Inhalt ist zu einem sekundären Wert geworden.

STANDARD: Katharsis für den ORF?

Strassegger: In diesen Zeiten muss man selber anarchistisch werden, sich Nischen suchen und sich mit den Unverdrossenen vernetzen. Die gibt es, sonst wäre es unerträglich. Die große Frage ist, ob es einen Plan gibt oder ob nach wie vor der Plan der Planlosen herrscht. (Doris Priesching, DER STANDARD; Printausgabe, 14./15.8.2010)