Standard: Wie würden Sie den Cyberspace als Ort beschreiben?

Borgmann: Als Ort ist er sehr schwer zu fassen. Cyberspace funktioniert aber sicher vollkommen anders als die Wirklichkeit, in der wir leben. Zum einen ist er uferlos und weit, zum anderen aber sehr scharf und unmittelbar. Menschen, die, wie in Amerika sehr oft, viel im Internet sind und dort quasi leben, wissen tausend kleine, unwichtige Dinge wie etwa, was der Freund jetzt gerade macht oder wer gerade wohin unterwegs ist und warum. Sie wissen auch, was ihr Lieblingsfilmstar gerade gefrühstückt hat und leiten diese Informationen weiter. Dieses Sich-Kümmern um tausend Kleinigkeiten lässt einen aber die großen Zusammenhänge des Lebens aus den Augen verlieren. Das hat Konsequenzen.

Standard: Was sind die Folgen?

Borgmann: Eine furchtbare Unwissenheit und Zerstreutheit, die das Leben verflachen. Für die wichtigen Dinge wie Geschichte, Politik, Wirtschaft oder Ethik gibt es kaum noch Interesse und Raum.

Standard: Pessimistische Sicht. Gab es nicht bei jeder neuen Technologie Skeptiker?

Borgmann: Klar, schon Plato machte sich Sorgen, dass die Menschen durch die Schrift ihr Gedächtnis verlieren, und als der Buchdruck erfunden wurde, gab es jene, die warnten, die Menschen würden ihr Leben mit Lesen verplempern. Für mich ist aber wichtig, dass man sich mit den ethischen Aspekten technischer Neuerungen auseinandersetzt.

Standard: Ethisch inwiefern?

Borgmann: Das Interesse und Wissen um Geografie, Geschichte und Politik wird immer weniger. Das hat auch Auswirkungen auf die Demokratie, die ja auf der Annahme beruht, dass man Verantwortung übernimmt - für sich und die Gesellschaft. Das erfordert Neugierde, Zeit und Beschäftigung. Dafür müssen sich die Menschen aber auch von ihren Bildschirmen wegbewegen.

Standard: Hat das Internet nicht gerade in dieser Hinsicht Vorteile?

Borgmann: Natürlich. Es ist toll, wenn es darum geht, mit Menschen Kontakt zu halten, die weit voneinander entfernt leben. Auch die Wahl von Präsident Obama, die ja massiv über das Internet gelaufen ist, war großartig. Es kommt aber grundsätzlich darauf an, was der Mittelpunkt im Leben eines Menschen ist. Solange Cyberspace diesen Lebensmittelpunkt unterstützt, sehe ich keine Probleme. Schwierig ist, wenn der Cyberspace als solches zum Lebensmittelpunkt wird.

Standard: Wie zum Beispiel Facebook?

Borgmann: Die Forschung zeigt, dass der Cyberspace eine reale Familie oder Freundschaft erweitern und bereichern, aber nicht ersetzen kann - geschweige denn Freundschaften produziert. Facebook sieht aus wie Freundschaft, ist es aber nicht. Denn wie soll ich mich um 2000 Freunde kümmern, das ist genauso gut, wie keinen Freund zu haben. Einen Freund kann man mitten in der Nacht anrufen, wenn man Hilfe braucht. Wer 2000 Freunde hat, tut sich schwer. Vielleicht bekommt man dann Aufmunterungsmails auf einen Hilferuf, aber das ist dann doch eher eine Hilfe im Nebel.

Standard: Halten Sie es für wichtig, dass Internet-User über die Technologie Bescheid wissen?

Borgmann: Natürlich. Die meisten kennen nur die Oberfläche des Internets, wissen aber nicht, wie es funktioniert. Es ist eine Tatsache, dass die Leute vor 200 Jahren mit den Strukturen, die ihr Leben ausmachten, wesentlich vertrauter waren, als sie es heute sind. Ein Schmied war ein Schmied, und jeder konnte sehen, was der macht. Heute werden uns solche Strukturen immer unbekannter.

Standard: Zielen Sie mit diesem Argument darauf ab, dass die Menschen dadurch immer leichter manipulierbar werden?

Borgmann: Nein, solche Gefahren sind ganz offensichtlich, und es gibt viele, die vor Datendiebstahl, Überwachung oder dem Verlust der Privatsphäre durch das Internet lautstark warnen. Ich mache mir über die verborgene Manipulationskraft Sorgen, über die Fragmentierung der Wirklichkeit und den Verlust der Lebensmittelpunkte. Darüber spricht niemand. Es bringt aber tiefgreifende soziale Veränderungen.

Standard: Und welche?

Borgmann: Veränderungen im Familienleben und die Tatsache, dass dort Strukturen wie etwa das gemeinsame Abendessen und das Austauschen von Informationen im realen Gespräch seltener werden. Da läutet das iPhone, E-Mails werden abgerufen, das stört das Reden. Oder auch das Buchen eines Ferienhauses: Die wichtigste Frage für viele Amerikaner ist, ob es einen Internet-Anschluss gibt. Wenn jeder im Urlaub im Netz ist, dann könnte er doch genauso gut zu Hause bleiben. Ganz generell ist es ja auch so, dass die Menschen immer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Das führt zu einer nie dagewesenen Immobilität. Die Teilnahme am Cyberspace ist, physisch betrachtet, ja vollkommen passiv. Das ist nicht zuletzt auch ein Grund dafür, warum es so viele fettleibige Menschen gibt. Das ist - zumindest in Amerika - ein riesiges Problem.

Standard: Viele arbeiten heute aber ausschließlich via Internet ...

Borgmann: Dazu sage ich nur zwei Sachen: Durch das Internet verschwimmen auch Arbeit und Privatsphäre, und selbst für Erwachsene ist es hier sehr schwer, Grenzen zu ziehen. Zum anderen ist es doch aber auch so, dass man selbst im Büro nicht die ganze Zeit arbeitet, sondern auch Dinge macht, die früher einmal zu den privaten Interessen gehörten. Da schaut man sich kurz die Sportnachrichten an, surft schnell, was am Abend im Kino ist, oder schreibt seinen Freunden E-Mails. Ernst und Freizeit liegen unmittelbar nebeneinander, greifen ineinander über. Da geht es um Grenzziehungen und die Frage, wie man der Zerstreutheit entkommen kann.

Standard: Wie sehen Sie die Zukunft?

Borgmann: Ich habe Hoffnung. Slow Food ist ein schönes Vorbild dafür, wie sich die Dinge auch verändern können. Ich hoffe also, dass es eines Tages so etwas wie Slow Information gibt. Denn eigentlich sollte den Leuten doch vor lauter Informationsüberfluss längst übel geworden sein. (Albert Borgmann, DER STANDARD/Album, Printausgabe, 07./08.08.2010)