Wer für den neuen Irak eine westliche Demokratie mit Trennung von Staat und Kirche, Liberalismus und generell den Werten der Aufklärung erhofft, hatte dieser Tage den Anblick von einer Million aufgewühlter Schiiten zu verarbeiten, die sich an der heiligen Stätte Kerbala der Ekstase ihrer Märtyrer-Mentalität hingaben: zahllose Männer, die sich ununterbrochen auf die Brust schlugen, einige geißelten sich mit Eisenketten, andere fügten sich Schnittwunden zu und schritten blutüberströmt und wie in Trance durch die Straßen. Die antiamerikanischen Parolen sind dabei noch das Mindeste.

Hier trat eine unter Saddam 25 Jahre grausam unterdrückte religiöse Erlösungssucht zutage, die man irgendwie nicht leicht mit Westminster-Demokratie, Gewaltenteilung, rule of law und genereller Kompromissbereitschaft assoziiert. - Inzwischen werden aus Bagdad die ersten Fälle von Cholera und Typhus gemeldet. Die Wasserversorgung ist immer noch nicht gewährleistet. Auch in der Rumsfeld-Army muss eigentlich die Bestimmung der Genfer Konvention bekannt sein, wonach eine Armee, die ein Land besetzt, auch für das Wohlergehen seiner Bewohner verantwortlich ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.4.2003)