Bild nicht mehr verfügbar.

Wie der drohende Kollaps eines EU-Mitgliedstaats zu mehr Miteinander führt: In Berlin fordern Demonstranten die deutsche Regierung auf, ihre Haltung gegenüber Griechenland zu ändern.

Foto: APA

Wir wissen jetzt, dass eine Währungsunion ohne eine gleichzeitige, weitreichende Koordinierung der Wirtschaftspolitik nicht funktioniert. Es hat dabei zwar erst einer griechischen Tragödie bedurft, aber man hört, dass nun sogar die deutsche Regierung bereit sei, sich in die makroökonomischen Karten schauen zu lassen, wenn dadurch im Gegenzug in der Zukunft vielleicht eine erneute, überraschende Schuldenoffenbarung in der Eurozone vermieden werden kann.

Wenn man nun argumentiert, dass das wahre Problem Europas die unterschiedliche Lohnpolitik sei, scheint auch bei diesem Thema zumindest eine Koordination innerhalb der EU nicht mehr ausgeschlossen. Als weiterer Mosaikstein wäre dann wohl eher früher als später die Abstimmung der Steuersysteme am Brüsseler Tisch, ist es doch der Steuerwettbewerb vor allem bezüglich der Körperschaftssteuersätze, der vielen der "alten" Mitgliedstaaten ein Dorn im Auge ist und an dem sich übrigens auch Österreich nach Kräften beteiligt.

Alle diese Maßnahmen erfordern keine Änderung der EU-Verträge, solange sie auf freiwilliger Basis bzw. einstimmig erfolgen und nicht zu EU-Recht werden (wie etwa als Richtlinien oder mit Sanktionsmöglichkeiten für nichtkooperationsbereite Mitgliedsstaaten). Wollte man etwa ein Euro-Mitglied bei groben Regelverstößen in Zukunft ausschließen oder dessen Stimmrechte beschränken, dann würde das eine Vertragsänderung erfordern mit Ratifikation in allen bzw. Volksabstimmungen in manchen Mitgliedstaaten. Nach dem Kraftakt der Ratifikation des Lissabon-Vertrages ist das sehr unwahrscheinlich, ganz zu schweigen von der Errichtung einer Wirtschaftsunion (wie in WWU), die diesen Namen auch verdienen würde (siehe Fritz Breuss' Standard-Kommentar vom 18. 6. 2010).

Aber auch die derzeit zu beobachtende Alternative einer verstärkten, freiwilligen Koordination in der EU kann den Grundstein für eine spätere Verrechtlichung legen. Man kann daher annehmen, dass der EU-Übervater Jean Monnet diese Entwicklung mit einer gewissen Genugtuung betrachtet hätte. Die Zusammenarbeit zwingt die Mitgliedstaaten zur Vertiefung der Integration auch in anderen Bereichen. Dass dieser Integrationsfortschritt erst im Angesicht des Beinahe-Kollapses eines Eurolandes und einer massiven Bedrohung der Stabilität weiterer Länder der Eurozone möglich wurde, ist langfristig gesehen dabei nur ein kleiner Schönheitsfehler.

Unionsbürgerschaft

Es könnte nun sein, dass eine ähnliche Entwicklung auch bei der Unionsbürgerschaft zu beobachten ist. Auch dieser Bereich der Integrationspolitik wird durch die mangelnde Integration in einem damit eng verbundenen Politikbereich, dem Staatsbürgerschaftsrecht, beeinträchtigt. Die Entscheidung, wem EU-Staaten Staatsbürgerschaft verleihen, ist eine rein nationale. Die Unionsbürgerschaft, die EU-Bürgern vor allem Schutz vor Diskriminierung bietet und Freizügigkeitsrechte einräumt, besteht neben der nationalen Staatsbürgerschaft, soll diese aber nicht ersetzen.

Unionsbürger ist somit jeder Staatsangehörige eines EU-Mitglieds. Es war übrigens dieses Diskriminierungsverbot, dessen Verletzung durch die österreichische Regelung des Hochschulzugangs im Verfahren gegen Österreich vor dem EuGH geltend gemacht wurde. Deutsche Studenten und damit Unionsbürger wurden gegenüber österreichischen Studenten (indirekt) diskriminiert, da von ihnen zusätzlich zur Hochschulreife noch die Zulassung zum Studium in Deutschland (Stichwort Numerus clausus) verlangt wurde. Die Unionsbürgerschaft ist heute also längst nicht mehr nur "symbolic plaything without substantive content", wie bei ihrer Einführung behauptet wurde.

Der enge Zusammenhang zwischen nationalem Staatsbürgerschaftsrecht und Unionsbürgerschaft hat bereits in der Vergangenheit zu skurrilen, aber nicht über Expertenkreise hinaus beachteten Entwicklungen geführt. Die meisten Länder in der EU, einschließlich Österreich, verleihen die Staatsbürgerschaft nach dem Prinzip ius sanguinis, wonach diese bei Geburt an jene der Eltern anknüpft. In Irland hingegen galt lange Zeit das Prinzip ius soli, wonach jeder Staatsbürger wird, der auf der Insel Irland (einschließlich Nordirland!) geboren wird. Nun begab es sich, dass Frau Chen aus China in Belfast ein Kind zur Welt brachte, im Wissen um diese Rechtslage und mit der Absicht, Aufenthaltsrechte für Großbritannien zu erlangen. Der Europäische Gerichtshof erkannte dem Kind, welches dadurch irischer Staatsbürger wurde, die Unionsbürgerschaft zu, und seiner Mutter ein Aufenthaltsrecht in der EU. Irland hat als Reaktion auf diesen Fall sein Staatsbürgerschaftsrecht in der Zwischenzeit übrigens auf ius sanguinis umgestellt.

Nun zu Ungarn: Mit einer medial vielbeachteten Entscheidung der neuen Regierung wurde die ungarische Staatsbürgerschaft allen ungarischstämmigen Bürgern im Ausland, vor allem in der Slowakei, Rumänien und Serbien, angeboten. Abgesehen von den bilateralen, diplomatischen Verstimmungen mit der Slowakei, hat diese ungarische Gesetzesänderung aus europäischer Perspektive viel weitreichendere Folgen als der Fall Chen und lässt eine Parallele zu den beschriebenen Folgen des Griechenlanddebakels erkennen. Serbische Staatsbürger ungarischer Herkunft, welche das Angebot der ungarischen Regierung annehmen, gelangen damit schlagartig in den Genuss voller Unionsbürgerrechte.

Aushöhlung von Abkommen

Damit werden mühsam ausverhandelte EU-Abkommen mit unter anderem Serbien, welche seit 2009 eine visafreie Einreise in die EU für 90 Tage erlauben, für einen Teil der serbischen Bevölkerung ad absurdum geführt. Ähnliches betreibt auch Rumänien, welches Bürgern der Republik Moldau die rumänische Staatsbürgerschaft und damit automatisch die Unionsbürgerschaft zukommen lässt.

Hier entsteht also gerade eine weitere Baustelle der EU-Integrationspolitik. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis auch Rufe nach der Vereinheitlichung des Staatsbürgerschaftsrechts laut werden, ja laut werden müssen, will man die Errungenschaften der Unionsbürgerschaft nicht gefährden. Damit hätten sowohl Griechenland, als "Impulsgeber" für eine stärkere Koordination der Wirtschaftspolitik in Europa, als auch Ungarn letztendlich der Integration einen Dienst erwiesen, auch wenn dieser derzeit vielleicht nicht als solcher erkennbar ist.(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.7.2010)