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Emotionsgeladene Begegnungen auf dem Felsen, der ein Nietzsche-Bart sein könnte: Herr N. (Johannes Martin Kränzle) und Ariadne (Mojca Erdmann)

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Der Komponist hat um eine rätselhaft-vieldeutige Szenenfolge virtuos eine komplexe und doch zugängliche Musik geschaffen.

Salzburg - Eine Menge herrlich greller Anblicke im Mozarthaus: Es rudert der Herr N. auf einem Felsen, der aussieht wie der Schnurrbart des Philosophen Nietzsche; es wandert der Herr N. auch in einem Meer aus pyramidenartigen Berggipfeln, um andernorts zwischen riesigen Kugeln quasi an einer psychedelisch anmutenden Fete teilzunehmen. Für jede der vier Szenen in Wolfgang Rihms neuer "Opernphantasie" hat der deutsche Künstler Jonathan Meese einen eigenen Bilderkosmos geschaffen. Und nicht nur mit dickem Pinselstrich Statements gesetzt.

Das Klavier, die hereingeschobene Harfe, das Pferd, die riesige Flasche - es sind alles schön klobige, klare und lustig gemalte Assistenten einer abstrakten Musiktheaterassoziation. Das trägt. Und auch die mit herabrinnenden Farben und Formen arbeitenden Videos (Martin Eidenberger) verhelfen Musik und Optik elegant zu so manch gesamtkunstwerklicher Verschmelzung.

Rihms Musik ist von berückender Klarheit, die gar keine Hilfe bräuchte. Das meisterhafte Handwerk des Komponisten verwirklicht sich hier zwar gerne in ruhigen Strukturverläufen, klaren harmonischen Flächen und ist frei von Angst, zugänglich-tonal zu wirken. Allein, Virtuose Rihm ist immer wieder auch ein Meister der Ambivalenz, der emotionalen Doppeldeutigkeit und der dramatischen Aufladung.

Auf der Stilbrücke

Zwischendurch bäumt sich seine Musik denn auch zu komplexen, mitunter perkussiven Energieschüben auf. Und selbst wenn so ein kleiner Walzer daherkommt, ist er weit davon entfernt, eindeutig historisch zu wirken, betört als Fusion aus süffig und komplex. Hier ist einer auch auf die Brücke zwischen Spätromantik und Moderne zurückgegangen und ist doch ganz bei sich geblieben, indem er eine endlose Folge starker Musikmomente erschaffen hat. Und nebenher auch witzig mit dem Genre Oper spielt, ohne eine Oper im klassischen Sinne geschrieben zu haben.

Dies verhindert schon allein die textliche Ebene. Nach Nietzsches Dionysos-Dithyramben hat Rihm unter Einsatz von Partikeln dieser expressiven Schöpfungen selbst einen hochpoetischen Text verfasst, der das Innere der Figuren nach außen projiziert, jedoch keine Handlung im üblichen Sinne hervorbringt. Die Figuren sind zudem Objekte eines ständigen Identitätswandels, eine Literaturoper sollte es ja nicht werden und auch kein Werk, das allzu konkret Biografisches verarbeitet. So scheint man sich in Nietzsches schon Größenwahn-umwölktem Kopf zu befinden, in dem sich der Denker als rauschverliebter Gott Dionysos fühlt, in einem Kopf, dem all die markanten Verstellungen zum Dionysos-Kult zu grellen Fantasien zusammenfließen.

Viele Querbezüge

Schiebt man diese Verweise und Querbezüge für einen Augenblick beiseite, was angesichts einer gewissen Rätselhaftigkeit ganz praktisch ist, bleibt Herr N. (grandios: Johannes Martin Kränzle) im Zentrum (umgeben von Nymphen und leichten Damen), als archetypischer Mensch auf der schmerzhaften Suche nach einer eigenen Sprache, nach Nähe, Identität, Wahrheit und Erlösung.

Auch dort, wo es konkret werden könnte, erliegt das Werk der Versuchung nicht: Wenn etwa jene Turiner Anekdote, wonach Nietzsche ein geschundenes Pferd in einem Anfall von Rührung umarmt hat, schließlich doch auftaucht, so ist sie doch abgehoben stilisiert: Am Rande der Bühne steht Herr N., dem in der vorigen Szene Apollon (klangschön auch als Ein Gast: Matthias Klink) in einem rituellen Akt die Haut abgezogen hat. N. ist nur noch Beobachter, während seine Haut (Tänzer: Uli Kirsch) ein Eigenleben führt und mit dem ausgepeitschten Pferd Hieb für Hieb mitzuckend leidet.

Eine dienende Regie

Alles fließt hier also ineinander über zu Gedankenfreiräume schaffender Vieldeutigkeit - umrahmt aber von Kantabilität: Rihm schreibt elegante Linien, die natürlich hohe vokale Könnerschaft einfordert. Diese zu demonstrieren hat besonders Mojca Erdmann, die sich am Anfang (als Ariadne) mit Herrn N. auf dem "Schnurrbartfelsen" effektvoll abquält. Dies wiederum ist ein Verdienst von Regisseur Pierre Audi: Einst mit seiner Zauberflöte in Salzburg eher nicht überzeugend, hat er Rihms Vorlage intensiv umgesetzt, hat besonders die Figur N. zur expressiver Unmittelbarkeit animiert.

Auch hat Audi der Transparenz den Vorzug vor einer allzu subjektiven Gangart gegeben - in diesem enigmatischen Musiktheaterfall natürlich ein echter Uraufführungssegen. Ein solcher ist auch Dirigent Ingo Metzmacher. Zusammen mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin erweckt er diese traditionsbewusste und doch überzeugende Partitur zum delikaten Leben, eine betörende Partitur, die über so manches textliche Rätsel hinwegträgt.

Im Publikum klang übrigens keiner unzufrieden. (Ljubisa Tosic / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29.7.2010)