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Miroslav Kloses Wohlfühlfaktor steigert sich im Spiel gegen Argentinien noch einmal.

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Spätestens jetzt ist klar: Joachim Löws Mannen zeigen den erfrischendsten Kick des Turniers. Selten sind Theorie und Praxis, System - ein außerordentlich flexibles 4-2-3-1 - und ausführender Mensch eine derartig harmonische Synthese eingegangen. Die Folge ist nicht nur wunderbar anzusehen, sondern für die Mitbewerber außerordentlich schwer ausrechenbar. Die Philosophie des deutschen Teamchefs, immer nach der spielerischen Lösung zu suchen, wird musterschülerhaft umgesetzt. Eine derartig kombinationssüchtige Gruppe hat der deutsche Fußball lange nicht mehr gesehen. Vielleicht noch nie. Dabei wird die Zweckmäßigkeit niemals vernachlässigt, bleibt Zielgerichtetheit oberste Maxime.

Auch das Schlagwort von der Gemeinsamkeit in Angriff und Verteidigung wird beinahe idealtypisch mit Leben erfüllt. Der Eifer, mit dem Lukas Podolski, Miroslav Klose oder Thomas Müller sich Defensivaufgaben widmen, sucht seinesgleichen. Allein Mesut Özil, elegantester aller Schlandler, scheint von solchen Aufgaben weitgehend dispensiert. Der Bremer lauert bei Standards für den Gegner mit Vorliebe im Halbfeld um für etwaige schnelle Gegenstöße bereit zu stehen. 

Der Kontrast zum Erscheinungsbild von Viertelfinal-Kontrahent Argentinien könnte gerade in diesem Punkt nicht augenfälliger sein. Das Desinteresse der Herren Messi, Higuain und - mit Abstrichen - Tevez an Entsatz-Einsätzen konnte vom Restverbund nicht kompensiert werden und führte regelmäßig zu deutscher Überzahl in Ballnähe. Die einzelkämpfenden Argentinier erschienen hingegen mit Autismus geschlagen. Messi ergab sich, nachdem die wenigen Ansätze zu seinen gefürchteten Tempodribblings in flexiblen deutschen Banden absorbiert waren, rasch der Ausgelaugtheit.

Umgekehrt muss jederzeit gewärtigt werden, eher auf reaktive Aufgaben gepolte Deutsche plötzlich in neue Kleider gewandet zu erblicken. Und im Fußball heißt das zumeist: es ist bereits zu spät. Dass Arne Friedrich sich in die Riege der Torschützen einreihte - zum ersten Mal in seiner Team-Karriere - ist kein Zufall. Noch vor wenigen Wochen ein Symbol für Niedergang wandelte sich der Ex-Berliner nun zum Auswuchs sprießender Buntheit. Mit ihm, Klose, Müller, Podolski, Özil und Cacau traten bereits sechs Deutsche als Treffer in Erscheinung - ein weiterer Ausweis für fluides wie intelligentes Networking. Die im Halbfinale wartende Furie leidet demgegenüber an gewisser Zahnlosigkeit: neben Villa herrscht gähnende Leere.

Keine andere Mannschaft ist in der Lage (und Willens!) derart flott von Defensive auf Offensive umzuschalten wie Jögis Frischlinge. Als Scharnier und Taktgeber fungiert hierbei in überragender Weise der in dieser Saison beinahe erschreckend stabile Bastian Schweinsteiger. Im Moment der Balleroberung sprintet es allenthalben los, schwärmt es aus. Dem Führer des Spielgeräts wird in der Sekunde eine Vielzahl von Optionen offeriert, während der auf dem falschen Fuß erwischte Gegner in Unordung verfällt. Selbige, in der Vorrunde punktuell durchaus noch feststellbar, haben die Deutschen ihrerseits sichtlich ausgedünnt. Per Mertesacker scheint auf der Höhe seiner Fähigkeiten angekommen, mit Jerome Boateng trotz dessen Rechtsfüßigkeit die linke Seite besser besetzt als weiland mit Holger Badstuber. Der ohnehin verlässliche Phillip Lahm zeigte sich im Viertelfinale als einer der weltbesten Außen-Männer.

Der vermeintlich Nachteil der Unerfahrenheit der jüngsten deutschen Elf aller Zeiten hat sich der Materialisierung bisher verweigert, er wird das auch weiterhin tun. Diese Mannschaft hat sich als Gesamtheit - wie ihre Bestandteile als Individuen - von Geburtsurkunden emanzipiert und präsentiert sich in einer Selbstverständlichkeit gefesigt, wie das nicht erwartet werden konnte. In Kombination mit der aus jeder Bewegung sprühenden Spiel- und Lauffreude - die physische Frische der Spieler ist frappant -  macht das alles Deutschland bisher unwiderstehlich. Gegen den dritten großen Namen in Folge geht man erstmals als Favorit ins Spiel. (Michael Robausch - derStandard.at - 4.7. 2010)