Woran erkennt man, dass man ein alter Sack ist? Wenn man sich umgeben von ein paar tausend weißgewandeten Kindern in der Türkei daran erinnert, schon einmal erlebt zu haben, dass ein Star einen grandiosen Auftritt hinlegt, ausgepfiffen wird, den Hut draufhaut und sich schleicht - und sich ein paar Jahre später just das Publikum, das da nichts verstanden hat, begeistert schreit: "Ich war auch da!"

Geschichte wiederholt sich manchmal: Ich stand in der Eventarena, in der Alexander Knechtsberger der ersten Tranche seiner "X-Jam"-Maturanten gerade einen Superstar vorsetzte - und dachte an Johnny Depp. Denn irgendwann Mitte der 90er-Jahre hatte ein Wiener Partymacher einen Kontakt zum Management jener Band, in der Johnny Depp spielte. Und weil Depp schick & schön war, buchte er „P" (die Band) für ein Schickiclubbing in den Sophiensälen - ohne je einen Ton gehört zu haben.

Toute Schnöselvienne

Toute Schnöselvienne stand im Feiertagsgewand im Tanzsaal. Ich glaube, dass außer Christian Fuchs (Musicbox), Walter Gröbchen, Martin Blumenau - obwohl ich nicht mehr sicher bin, ob der wirklich da war - mir und einer Handvoll anderer Box-Spinner, tatsächlich niemand "P" kannte. Der Vorhang hob sich, die Band kam, Mädchen kreischten. Depp stand mit dem Rücken zum Publikum am Bass. Ganz hinten. Im Vorhang. Dafür hopste vorne einer herum, der so gar nicht den ästhetischen Schicki-Kriterien entsprach: Dass Gibby Haynes, der Sänger, im Hauptberuf Frontmann der Butthole Surfers war, wussten die Sophiensäle-Leute nicht. Auch nicht, dass die Butthole Surfer musikalisch ihrem Namen sehr gerecht werden.

"P", das Freizeitprojekt der jungen Hollywoodwilden, klang nicht nach Backstreetboys. Im Gegenteil. Das Volk war entsetzt. Murrte. Buhte. Randalierte. Nach der dritten Nummer drehte der Veranstalter auf der Bühne den Strom ab. Conny de Beauclaire war es, der die Band überredete, am nächsten Abend im U4 aufzutreten. Vor Menschen, die wussten, was sie erwartete - und das Schräge schätzten.

Dennoch ist der Gig in der Sophie heute so legendär, wie der von Nirvana vor 120 Leuten im U4. Jeder, der alt genug ist, zu behaupten, damals dabei gewesen zu sein, hat heute schon damals alles gewusst.

Die Parallele

Was das mit Knechtsberger und Beth Ditto zu tun hat? Viel. Denn als die schwergewichtige Gossip-Sängerin die Bühne betrat, blieb den Kids die Luft weg: Eine Blade - vor einer Klientel, in der Ins-Bild-Passen alles ist? Geht gar nicht. Das erste "Buh" kam vor dem ersten Ton. Und der Bandwaggoneffekt, der in einer Gruppe von Halbwüchsigen die eine Woche lang gemeinsam feiert eines der Geheimnisse des enormen Erfolges aller Massenmaturareisen ist, zeigte sein hässliches Gesicht: Binnen Sekunden buhte die halbe Arena.

Doch die Band pfiff drauf. Anstatt sich zu verstecken, sprang die Frau, die Karl Lagerfeld seine Muse nennt, die auf Festivals und in großen TV-Shows für Furore sorgt und die mittlerweile global als A-Promi gilt, in die Menge. Ditto stampfte singend, schwitzend und tanzend durch das weißgewandete Volk. Ohne Sicherheitskordon - hautnah. Die Managerin am Bühnenrand war knapp am Nervenzusammenbruch - und Ditto ging in den Infight: Sie herzte Kids, tanzte mit ihnen, klaute im Vorbeigehen Zigaretten - und siehe da: Als die Masse die Songs als aus dem Radio bekannt identifizierte, funktionierte der Gig doch noch. Und rund um Frau Ditto war sowieso dauernd Remmidemmi pur. Vor allem die nicht ganz modelcastingshowtauglichen Mädchen jubelten.

Mainstream

Freilich: Die (meist männlichen) Buh-Rufer pfiffen weiter. Man hatte etwas Pin-up-artiges erhofft. "We do not give a shit, whether you like us or not", lachte Ditto sie aus - änderte aber das Set: Mainstreampop für Mainstremhirne. Nach einer kurzen "School is out for summer"-Einlage improvisierte man (nachdem die Schlagzeugerin einmal die Bühne entnervt verlassen hatte) zielgruppenkompatible Schrumpfhirn-Cover. Tina Turners "What´s Love got to do with it" etwa. Oder Lady Gagas (Ditto: "Hey, I´m not Gaga!") "Bad Romance" - und zum krönenden Abschluss auch noch Whitney Houston. (Ich weiß nicht mehr welchen Song).

Da war Ditto aber gar nicht mehr auf der Bühne. Der Fotograf Andreas Tischler, Franziska Trost (Krone) und Nica Steinbauer (Seitenblickmagazin) erzählten danach, dass die Sängerin sich mit dem Mikrofon in der Hand ins wartende Golfwagerl gewuchtet habe - und ins dreihundert Meter entfernte Hotel fuhr: So lange die Funkstrecke hielt, sang sie.

Die Kids in Weiß waren verwirrt: Was da passiert war, hatte so gar nicht ihren Erwartungen eines slicken, 0815-Sexyness ausstrahlenden, stubenrein-renitenten Klischee-Acts entsprochen. Es dauerte lange, bis der DJ die Party wieder richtig in Gang brachte.

Alte Säcke

Wir, die alten Säcke in der VIP-Zone, sahen einander an: Abgesehen davon, dass der Gig großartig und auch lustig gewesen war, wussten wir, dass wir gerade etwas erlebt hatten, was gänzlich außer der Norm der üblichen 40-Minuten-Auftritte solcher Sternschnuppen oder Nicht-Nur-Sternschnuppenbands gelegen hatte. In jeder Hinsicht. Ein Scheiss-auf-Euch-Deppen-Cover von Lady Gaga mit "I am not Gaga" anzusagen und den Song quasi aus dem Stegreif origineller als das Original zu bringen, ist nämlich genau das, was Knechtsberger seinen Events als PR-Adjektiv sonst gerne selbst umhängt: "legendär".

Dass vor Ort ein Großteil des Reifeprüfungs-Publikums schlicht zu unreif war, das zu verstehen (und zu borniert, es verstehen zu wollen), ändert daran nichts. Und in ein paar Jahren werden dann sogar Menschen hier gejubelt und getanzt haben, die zu dieser Zeit nicht einmal in der Nähe der Türkischen Riviera gewesen sind. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 28. Juni 2010)