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Lieberman mit Kanzler Werner Faymann am Donnerstag.

Foto: Reuters/Ronen Zvulun

Die Europäer sollten sich selbst davon überzeugen, dass es im Gazastreifen keine humanitäre Krise gebe, so das Motiv. Außerdem könnten Israel mit dieser Strategie versuchen, den Gazastreifen ganz abzukoppeln.

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In Fortsetzung einer Kehrtwende in seiner Gaza-Politik will Israel es nun anscheinend ausländischen Politikern und Diplomaten ermöglichen, über Israel in den Gazastreifen einzureisen. Laut israelischen Medien hat Außenminister Avigdor Lieberman bei einem Besuch in Rom seinen italienischen Amtskollegen Franco Frattini sogar dazu ermuntert, eine hochkarätige europäische Mission zu organisieren. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle kündigte bereits an, in den Gazastreifen reisen zu wollen.

Demnach sollen die Außenminister von sieben EU-Staaten gemeinsam den Gazastreifen besuchen. Zu Wochenbeginn hatte Israel begonnen, die Wareneinfuhren in das von der radikalislamischen Hamas beherrschte Küstengebiet erheblich zu erweitern. Die Frage der Blockade ist auch mit dem Schicksal von Gilad Schalit verknüpft - der vierte Jahrestag der Verschleppung des damals 19-jährigen Soldaten durch die Hamas war gestern zentral.

Besuch in Sderot

Liebermans Vorstoß soll mit Premier Benjamin Netanjahu koordiniert sein. Erst vor wenigen Tagen hatte der deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel verärgert reagiert, als Israel ihm die Einreise in den Gazastreifen verweigerte. Das war seit gut drei Jahren konstante Politik gewesen. So war etwa auch den Außenministern Frankreichs und der Türkei der Wunsch, den Gazastreifen zu besichtigen, nicht erfüllt worden. Im März hatte man für die EU-Außenvertreterin Catherine Ashton allerdings eine Ausnahme gemacht. In allen Fällen ging es nicht um offizielle Besuche bei Funktionären der Hamas, die von der EU ja als Terrorgruppe geächtet wird, sondern um die Inspektion von Projekten und humanitären Einrichtungen. Das Motiv hinter Liebermans Vorschlag soll nun sein, die EU-Politiker sich selbst davon überzeugen zu lassen, dass es im Gaza keine humanitäre Krise gebe. Die Minister würden dabei etwa auch das oft von Raketen beschossene israelische Städtchen Sderot und den Hafen von Aschdod besuchen, wo für den Gazastreifen bestimmte Waren ausgeladen werden.

Kommentatoren sehen aber auch einen Zusammenhang mit einem möglichen israelischen Plan, sich längerfristig völlig vom Gazastreifen "abzukoppeln" , um die Debatte über die Blockade zu beenden. Demnach würde Israel alle Landpassagen schließen und die Strom- und Wasserzufuhr einstellen. Der Gazastreifen müsste sich dann autonom über Ägypten und auf dem Seeweg versorgen. Der ägyptische Präsident Hosni Mubarak hatte erst am Mittwoch in einer Rede Israel vor dem Versuch gewarnt, "sich vor der Verantwortung für Gaza zu drücken und sie Ägypten anzuhängen" .

Dreifache Lieferung

 

Vorläufig soll aber der Umfang der Lieferungen über Israel in den kommenden Wochen nach und nach von zuletzt rund 125 auf rund 380 Lastwagenfuhren pro Tag circa verdreifacht werden. Kritisiert wurde die Lockerung der Blockade etwa durch Oppositionschefin Zipi Livni von der liberalen Kadima-Partei. Netanjahu habe mit dieser Entscheidung vor der Hamas "kapituliert" , meinte Livni, "die Hamas gewinnt Legitimität, und Israel verliert sie" .

Livni war die Außenministerin der Regierung Ehud Olmert gewesen, die die Blockade verhängt hatte. Auch Noam Schalit, der Vater des entführten Soldaten, zeigte sich enttäuscht, weil ein Druckmittel für die Befreiung der Geisel verlorengegangen sein: "Diese Blockade war eines der Instrumente, leider ist sie schon zerbröckelt und existiert nicht mehr."

Der Hamas-Überfall auf eine Grenzpatrouille, bei der Schalit verschleppt wurde, löste eine Militäraktion in Gaza aus. Über die Jahre sind Anläufe, ihn im Tausch gegen hunderte palästinensische Gefangene freizubekommen, gescheitert. Human Rights Watch warf der Hamas gestern vor, sie verletze das Kriegsrecht und handle "grausam und unmenschlich" , weil sie seit vier Jahren keinen Kontakt zwischen Schalit und seiner Familie zulasse.

Aktivisten fuhren gestern in Tel Aviv auf Rädern mit Schalit-Postern zu den Botschaften der fünf UN-Vetomächte, um für Schalits "humanitäre Rechte" einzutreten. Am Sonntag wollen Schalits Freunde einen "letzten Marsch" von seinem Heimatort zur Residenz des Premiers starten. (Ben Segenreich aus Tel Aviv/DER STANDARD, Printausgabe, 26.6.2010)