Wenn Kunst verschwindet: Leere Museumswände machen auf russische (Selbst-)Zensur aufmerksam. Ein Blick auf die Werke kann nur durch kleine Gucklöcher erhascht werden.

Foto: Sacharow-Zentrum

Wegen einer Collage, die Jesus mit einem Lenin-Orden zeigt.

Ein spektakulärer Moskauer Kunstprozess geht zu Ende. Den prominenten Kuratoren der Ausstellung "Verbotene Kunst 2006" drohen drei Jahre Haft: Wegen einer Collage, die Jesus mit einem Lenin-Orden zeigt.


Mit dem schillernden Kunstbetrieb der russischen Hauptstadt, seinen schicken Privatgalerien und Vorzeigeevents wie der Moskauer Biennale, die 2011 von Kurator Peter Weibel verantwortet wird, hat die Szenerie im stickigen Bezirksgericht nichts zu tun. Seit mehr als zwei Jahren läuft der Prozess gegen den berühmten Moskauer Kurator Andrej Jerofejew und Juri Samodurow. Beiden wird eine Ausstellung vorgeworfen, die sie 2007 im Moskauer Sacharow-Zentrum gezeigt hatten. Samodurow war damals Direktor dieser Institution gewesen, die das Erbe des sowjetischen Menschenrechtlers Andrej Sacharow hochhält.

Verbotene Kunst 2006 – so der Titel der Ausstellung – hätte lediglich dokumentieren sollen, welche Kunstwerke im Jahr 2006 aus Gründen der Selbstzensur nicht gezeigt worden waren. Kurator Jerofejew ließ die Arbeiten, die formal nie verboten wurden, hinter einer Wand verschwinden. Nur durch Gucklöcher konnten Blicke auf die Selbstzensuropfer erhascht werden.

Darunter waren Werke teils weltberühmter Künstler: Ein Siebdruck von Ilja Kabakow, der mit russischen Schimpfwörtern spielte, und Arbeiten des Konzeptualisten Michail Kosolapow, der mit christlicher Ikonografie Kapitalismuskritik übt. Oder auch eine Collage des 2009 verstorbenen Wagritsch Bachtschanjan aus den Achtzigerjahren, die das Gesicht eines gekreuzigten Jesus mit einem Lenin-Orden überdeckt – für den Dissidenten und Künstler Ausdruck seines Protests gegen das Sowjetregime.

"Religiöser Hass"

Doch die rechtsextreme Vereinigung "Volkskathedrale" hatte die Schau sofort zur Gotteslästerung erklärt und Behörden mit Anzeigen eingedeckt. Auf Intervention von Rechtsaußenpolitikern, die damals noch in der Duma saßen, wurde im Mai 2008 Anklage nach Paragraf 282 des Strafrechts erhoben. Das Delikt: Schüren von religiösem Hass in einer organisierten Gruppe. Der maximale Strafrahmen beträgt dabei fünf Jahre Freiheitsentzug.

Nach mehr als 30 Verhandlungstagen mit fast 200 Zeugen geht der Monsterprozess nun zu Ende. Auffällig war bei den Schlussplädoyers am Montag einmal mehr das massive Publikumsinteresse. Mehrheitlich saßen Anhänger der "Volkskathedrale" im Gerichtssaal, darunter viele kopftuchtragende Frauen, die während der Verhandlung in russisch-orthodoxen Gebetsbüchern lasen. Und Aktivisten, die immer wieder zu Zwischenrufen gegen die Angeklagten anhoben und dabei betonten, dass diese "Juden" seien. Das habe, wie eine Prozessbesucherin erklärt, eine direkte Beziehung zur Ausstellung: "Die Juden lieben Christus nicht und wollen ihn umbringen." Eine Ironie der Geschichte: Paragraf 282 war seinerzeit just zum Schutz von Minderheiten und gegen Antisemitismus eingeführt worden.

Überraschungen blieben am Montag aus. Eine Troika bekannter Moskauer Strafverteidiger plädierte für Freisprüche, während der Staatsanwalt auch lobend auf den Gotteslästerungsparagrafen im österreichischen Strafrecht verwies. Er erwähnte dabei nicht, dass hier Haftstrafen für Kulturschaffende auszuschließen sind.

In Moskau ist das anders: Die Anklage fordert eine Verurteilung Jerofejews und Samodurows zu drei Jahren Freiheitsentzug in einer Siedlungskolonie. Samodurow war 2005 bereits wegen einer anderen Ausstellung, die das Interesse der "Volkskathedrale" erweckt hatte, zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Dieser Fall ist nunmehr am Europäischen Gerichtshof in Straßburg anhängig.

Für Verbotene Kunst 2006 gilt ausgehend von den Realien der Moskauer Justiz eine unbedingte Verurteilung als wahrscheinlich. Erstmals in der jüngeren russischen Kunstgeschichte könnten bei der Urteilsverkündung am 12. Juli Kuratoren ihrer Arbeit wegen eingesperrt werden. (Herwig Höller aus Moskau, DER STANDARD/Printausgabe, 25.06.2010)