... Außer uns. Und einer Pensionistin, die auf ihrem Klapprad ihre Runde drehte: Wer hatte seine Decken nicht ordentlich aus dem Fenster gehängt, welcher Griller rauchte zu viel. Welches Auto war noch immer ungewaschen.

Die alte Frau hatte eine Menge zu beobachten. Deshalb fuhr sie so langsam, musterte uns und nickte auch beim dritten "Grüß Gott" ("Guten Tag" gilt hier als feindlicher Akt) nicht. Dafür blieb sie 20 Meter hinter uns stehen und schaute uns nach. Und der Bub hatte offensichtlich Angst: Er deckte mit einer Hand die Tastatur über der Türschnalle ab, und versuchte den Türcode einzugeben. Dabei ließ er uns nicht aus den Augen. Mama und Papa hatten gesagt, das böse lauere überall dort, wo Fremde sind. Und die Fremden waren wir.

Erholungszentrum

Wir waren auf Osterbesuch bei meiner Mutter. In einer dieser – euphemistisch "Erholungszentrum" genannten - größeren Schrebergartensiedlungen vor Wien. Ein Spießeridyll an drei Schotterteichen: dicht an dicht stehen einst als Teichhäuslein konzipierte Hütten nebeneinander.

Vor 20 Jahren war ich wehrlos. Und verbrachte meine Wochenenden in dieser Strafkollonie kleinbürgerlicher Freizeitalbträume, die sich das favoritner und meidlinger Wohlstandsproletariat geschaffen hatte. Ruderbeleiberlte Bierbäuche, die alles wussten, aber trotzdem nie den Sprung aus dem Gemeindebau geschafft hatten. Übergewichtige und überschminkte Hacklwerferinnen, deren Glück es war, am Wochenende die Komplettküche im Plattenbau zu verlassen, um im Hütterl am Teich dem Gatten Schnitzel und Kartoffelsalat zu reichen und dann von Hand abzuwaschen. Mopeds und sich selbst mit dem gleichen Öl frisierende hormongesteuerte Analphabeten, deren Bildungsniveau lediglich von ihrer Aggressionsschwelle unterboten wurde. Meinen Eltern waren die Leute wurscht. Aber mein Bruder und ich hatten hier echt eine spitzenfeine Zeit.

Metastasierende Tujenhecken

Jetzt, Jahrzehnte später, sind die Bierbäuche immer noch da. Und Pensionisten. Ihre Frauen kochen immer noch Schnitzel und keppeln. Die Mopedfahrer haben mittlerweile selbst Bierbauch und Familie. Wenn sie nicht selbst ein haus im Grünen haben, kommen sie mit Familienkutschen auf Wochenendbesuch. Die Hütterln sind über die Jahre zu mehrstöckigen Fertigteilmonstern hinter dichten Tujenhecken metastasiert. Die kleinen Rasenflächen zwischen Hütten und Schotterteich verschwanden: Was zunächst Veranda war, wurde verglast, davor entstand eine neue Veranda. Und so weiter. Autoabstellplätze wurden zuerst per Waschbetonplatte und Plastikdach abgesteckt, dann ummauert und dann den Häusern einverleibt. Aus den Dächern rankten sich Satellitenschüsseln. Maschendrahtzäune mutierten zu mannshohen Mauern oder eisenspitzenbewehrten Stabzäunen. Über die Fenster legten sich Gitter, an den Toren – gleich unter den Kumpffigurinen und Markustorlöwen – brachen kleine Kamerageschwüre aus: Irgendwie muss man die dicken Abfertigungsmercedesse, die die klapprigen Fords und Opels abgelöst haben und auf zu "Privatparkplätzen" erklärten Straßenteilen vor dem Zaun logieren, schließlich im Auge behalten. Vor allem, wenn sie am Ostermontagvormittag frisch gewaschen und gewachst in der Aprilsonne glitzerten – und Fremde vorbeigehen. Fremde, vor denen sich sogar die Kinder fürchten.

Zum Abschied, am späten Nachmittag des Ostermontags, fragte mich meine Mutter, ob wir jetzt vielleicht öfter hierher kommen würden. Ich sei schließlich nicht mehr 14 – und hätte mich doch mittlerweile hoffentlich endlich von meinen Vorurteilen gelöst. A. konnte erst aufhören zu lachen, als wir bereits an den Türmen am Wienerberg vorbeigefahren waren.

Nachlese

--> Banales Kreuzungsgeschehen
--> Der Mitesser
--> Gratis parken
--> Sternmarsch
--> Wie bei Oma
--> Indien

--> Ein Geschenk
--> Speckgürtel
--> Valentinsdebakel
--> Die Mulde
--> Die Tunnel unter der Stadt
--> Flugrattenpflege

--> Telefonieren für 0 Cent
--> Spaß mit den Nachbarn
--> Drei Zentimeter
--> Noch ein Zimmer
--> Eleanor Rigby

--> Quartierschreberei revisited
--> Weitere Stadtgeschichten ...