Salzburg - Spektakuläre, Diskussionen versprechende Orchesterneuheiten hin, die kontraproduktiven Begleiterscheinungen des kleinen Alternativfestivals her - wenn die Osterfestspiele ihren alten Kunstansprüchen und jenen ihres am Großartigen geschulten Publikums genügen, dann handelt es sich auf dem Festspielhauspodium um die kapitale Sinfonik (ganz gleich, ob nun ein Chor das Sagen hat oder lediglich die Berliner Philharmoniker das Singen).

So war es auch in diesem ersten Jahr der wohlgelaunten Regentschaft Sir Simon Rattles, als Bernard Haitink die Achte von Bruckner zelebrierte. Und so gelang es auch zwei Abende später, als Rattle mit diesem inzwischen sehr jung besetzten Berliner Orchester Mahlers Fünfte mit all ihren Wundern und schonungslos auskomponierten Wunden auf Erlebensreise schickte.

Rattle hütete sich, das ob seiner herbstlichen Schönheit von den Interpreten fast schon gefürchtete "Adagietto" allzu langsam zu nehmen. Zu Mahlers Zeiten war der Satz viel intermezzohafter gespielt worden, nimmer so breit und todesverliebt wie heute unter dem Eindruck der Viscontischen Mann-Verfilmung. Kurzum: eine grandiose, durch und durch ehrlich auf begründete Subjektivität abzielende Darbietung, deren großformatiger Wollust die kurzatmige Novität einer Tagebuch-Sinfonik des deutschen Komponisten Heiner Goebbels vorangeschickt ward.

Goebbels' Tagebucheintragungen - eine "Beschäftigung mit oft nebensächlichen Geräuschen" - verbinden unter Verzicht auf fast alle Streicher Geblasenes, Gezupftes und Geschlagenes mit vorfabrizierten Tonbandmaterialien aus der Welt des Alltäglichen, des Nebenhergehörten. Eine launige Melange von gutmütiger Gereiztheit, die neben den wirklich am Neuen interessierten Hörern auch all jene befriedigt haben sollte, die mit dem Namen Goebbels die Reinkarnation des Ungemütlichen in der Gestalt eines Komponisten vermutet hatten.

In früheren Jahren fügten und verschärften sich die Kontrapunkte nicht selten zu einer kleinen Messe des Unbotmäßigen im Schatten der Osterfestspiele. Simon Rattle zeichnet nun auch für diese Veranstaltung verantwortlich. Er wird sich für das kommende Jahr überlegen müssen, ob er an eine Suite von Unterhaltungsterminen (Jazz, Salonmusik) und einer eher konservativ programmierten Kammermusikmatinee festhalten möchte. Aus Punkten sind Pünktchen geworden, denen im Einzelnen manche Ergötzlichkeit nicht abzusprechen ist, aber Beethovens Septett op. 20 als Kontrapunkt zum Fidelio wäre sicher auch ohne Unterstützung von Stadt und Land Salzburg platzierbar.

Im vergleichenden Rückblick auf diese ersten Festspiele der Rattle-Ära und jene Musikfeierlichkeiten früherer Jahre, die von Karajan im Alleingang bewältigt wurden, mag es heute ein wenig gelassener, normaler zugehen. Es liegt etwas von Abgesang und zugleich von Erneuerung im Konjunktiv in der Luft. Die jungen Abonnenten von einst sind in die Jahre gekommen, manch einem schmerzt der Rücken, manch einer muss sich stützen, wenn er im Festspielhaus auf schwindendem Boden in einen der Mittelgänge einbiegt. Im Übrigen hatte der Veranstalter Glück. Trotz der prekären Weltsituation hielten sich die Stornos in Grenzen. Familienfeste lässt man nicht aus - und solche sind die Osterfestspiele längst für die meisten der Besucher. (DER STANDARD, Printausgabe vom 22.4.2003)