Hoppala. Da steht man lange an vor der überströmend gut besuchten Ausstellung Realismus: Das Abenteuer der Wirklichkeit, um vor dem ersten Bild Folgendes zu lesen: "Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes." Ein Gedanke Salvador Dalís, von dem in der mit knapp 200 Exponaten etwas überladenen Schau nicht eine Arbeit zu sehen ist.

Realismus: von Anfang an, besser gesagt, seit den späten 1850er- Jahren, seit Millets Ackerlandschaften und Courbets Wellenbildern, umstritten. Schwankend. Und strittig. Denn damals kam schon mit Macht die Fotografie auf und reformierte grundlegend das Abbilden der Welt. Nicht umsonst reagierten Künstler seit den 1880er-Jahren darauf explizit ins Eigenschöpferische abbiegend. Der Impressionismus löste alles Festoptische auf, Dada zerlegte die Welt und fügte sie neu zusammen. Nach 1918 war die Neue Sachlichkeit realistisch, aber magisch. Und der Surrealismus ein Abgrund an Traumata.

Dass es nach 1945 zu heftigen Debatten über Realismus und Abbildbarkeit kam, dass die Abstraktion vornehmlich amerikanischer Prägung damals zu ihrem Recht kam, war auch dem Missbrauch durch eine sich diensteifrig realistisch malende Künstlerschaft in roten und braunen Terrorregimes zuzuschreiben.

Eine solche qualitativ schwankende Schau wie die in München wurde früher als "Ausstellung via Zettelkasten" verspottet. Heute könnte man neumodischer höhnen: "exposition made by excel" . Zu unüberschaubar sind die Möglichkeiten des Materials und der Beispiele. Tatsächlich hilft es wenig, um einen Überblick zu gewinnen, dass acht Themenkabinette eingerichtet wurden. Die reichen von Stillleben über Interieur, Stadt, Akte, Porträts, Landschaften bis zu Genrebild und Historiengemälde. Das führt zu absichtlich ironischen Hängungen, etwa bei Bildern der Alpen - pathetisch bei Adolphe Brauns Foto von 1870, gigantisch bei Michael Reisch und verspielt in Mariele Neudeckers trickreicher Kasteninstallation - oder auch zu gelungenen Kombinationen wie in der Abteilung "Stillleben" : eine Arbeit Daniel Spoerris neben einem Vanitasvideo Sam Taylor-Woods, barock den Verfall von Obst vorführend, und Herbert Plobergers Toilettentisch von 1926.

Fehlende Akzente

Doch in jeder Sektion hätten fehlende Arbeiten entschiedenere, auch klügere Akzente gesetzt. Bei der Abfolge von Industrielandschaften von einer Nazi-Autobahn bis zu Heiner Altmeppens Landschaft an der Emscher von 2008 etwa ein Gemälde des Ostdeutschen Wolfgang Mattheuer, auf dem die Utopie begraben wird unter Autobahnspuren. Am besten gelungen ist der kleine, konzentrierte Kabinettraum mit den Fotografien des fabelhaften Charles Sheeler, der im Detroiter Ford-Werk fotografierte, und von Berenice Abbott sowie Stephen Shore, dessen Arbeiten den Fotorealisten Richard Estes einrahmen.

Hätte hier nicht auch Franz Zadrazil Platz gefunden? Von seinen magisch bedrohlichen Abbildern der Nachtseite der Realität ist bizarrerweise nicht eines ausgestellt. Am Ende wird man entlassen mit Aernout Miks Scapegoat, einer eminent politischen filmischen Kreuzung aus gefakter Dokumentation, inszeniertem Spiel und traurig Absurdem à la Samuel Beckett. Der Trickser Mik zeigt, dass Realität eben eine Konstruktion ist, die sich in den Köpfen abspielt. Den Willen der Kuratoren, das Fragile und die abenteuerlichen Täuschungen und Widerlegungen des Objektiven zu zeigen, sieht man wohl. Nur manchmal genügt Wollen nicht. (Alexander Kluy aus München, DER STANDARD/Printausgabe, 22.06.2010)