Vilma heiratet ihre Enkelin ist der Gipfel einer frühen Kindheit, wohl der Katharina Rieses, die soeben im Sonderzahl Verlag ein Buch mit dem gleichnamigen Titel vorgelegt hat. Und damit endet auch das Buch. Katharina alias Karin ist sieben Jahre alt.

In 99 Blättern - oder "Skizzen" , wie es im Untertitel heißt - erzählt Katharina Riese eine nicht gerade glückliche Kindheit: Der Vater, der gar nicht mit der Mutter verheiratet war, starb bereits kurz nach Karins Geburt. Ihr älterer Bruder wurde zur Adoption freigegeben. Karin brüllte sofort, sobald sich mögliche Adoptiveltern ihr auch nur näherten. Und so bleibt sie bei Mutter Irma und Großmutter Vilma in Linz.

Die Mutter arbeitet als Chemikerin in einem Labor, sodass das Kind von der verwitweten Großmutter aufgezogen wird. Diese weint besseren Zeiten nach, als sie noch in der Bürgerstraße 5 wohnte. Nun muss sie sich mit einer Wohnung begnügen, die lediglich aus Salon, Schlafzimmer und Kabinett besteht und nicht einmal ein Bad besitzt. Der Rest der Wohnung ist an einen Nervenarzt vermietet. Mutter, Großmutter und Kind schlafen in einem Zimmer, die Erwachsenen im Ehebett, das Kind auf einem Diwan. Mutter und Kind sind bei der Großmutter "zu Gast" . - All das vor dem Hintergrund des "Furchtbaren" , das passiert war und wonach zu fragen verboten ist: dem Zusammenbruch Nazideutschlands.

In knappen Sätzen entsteht aus den Skizzen in der Art eines Mosaiks ein äußerst farben- und detailreiches Bild einer Nachkriegskindheit, die bei allem individuellen Erleben dennoch exemplarisch die Welt der Zeit spiegelt: das Dienstmädchen, das im Kabinett schläft und kontrolliert wird, die Wäsche, die abgeholt wird, der Volksempfänger in der Küche und natürlich das "Furchtbare" , über das nicht geredet wird.

Geredet wird nur über andere: über die, zu denen man Kontakte pflegt, die, bei denen "Pflichtbesuche" zu absolvieren sind, und die sogenannten "Grußbekanntschaften" . Da läuft Vilma zur Hochform auf und vermittelt dem Kind über ein Repertoire an unverrückbaren Meinungen, das sich diesem über seine eindringliche Begrifflichkeit ins Gedächtnis schreibt, den Wertekanon der Großmutter und damit auch den der Zeit.

Mit viel Empathie, ohne Selbstmitleid, aber auch mit einer gehörigen Portion Ironie wird die dominante Großmutter aus der Kinderperspektive geschildert. Ihr Einheizritual zum Beispiel oder der heilige Mittagsschlaf, Bridgepartien, bei der Kinder "Auftrittsverbot" haben, Ausflüge zur Grottenbahn am Pöstlingberg, vor der sich Karin fürchtet, oder die gescheiterten Versuche, den Kindergarten zu besuchen, arbeiten in tragikomischer Weise die Ohnmacht heraus, in die das Kind auf Schritt und Tritt gerät.

Schließlich heiratet die Mutter, und Vilma macht mit ihrer Enkelin zum Trost eine "Hochzeitsreise" nach Windischgarsten, wo sie sich am Jahrmarkt hinter einer bemalten Holzwand mit ausgeschnittenen Löchern als Braut und Bräutigam fotografieren lassen: "Auch ohne diese Hochzeitsreise war mir klar, dass ich bei Vilma bleiben würde, wenn Irma, wann auch immer, auszöge." - "Vilma erklärte, dass wir zwei (...) ab jetzt auch ein Paar seien. Es gäbe, so Vilma, auf dieser Welt ganz verschiedene Paare, zum Beispiel Mann und Frau, aber Alt und Jung sei auch eine Möglichkeit." (Claudia Erdheim, DER STANDARD/Printausgabe 19.6./20.6.2010)