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"Exzellenz in der Wissenschaft ist sicher notwendig, aber wir brauchen ein breites Fundament dafür" , Wolfgang Lutz, einer der wenigen international renommierten Sozialwissenschafter des Landes.

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STANDARD: Wie kam es, dass Sie ausgerechnet Demograf wurden?

Lutz: Ich hatte mein diesbezügliches Schlüsselerlebnis bereits mit 15. Eines Tages kam mein Vater, ein Historiker, von einer Sitzung der Akademie der Wissenschaften nach Hause und erzählte von einem Vortrag über den Vorbericht zur ersten Studie des Club of Rome. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich damals die ganze Nacht diese Kurven und Szenarien studiert habe und mir dachte, dass darin die ganz großen Herausforderungen der Menschheit liegen. Das wollte ich mir näher anschauen, obwohl ich noch nicht wusste, dass das ein eigenes Fach ist und Demografie heißt.

STANDARD: Gab es das damals überhaupt schon als Studium?

Lutz: Nein. Ich habe mich dann zuerst im Rahmen des Statistikstudiums an diese Frage herangetastet. Meine eigentliche Ausbildung habe ich dann vor allem in den USA gemacht. Vor 25 Jahren gab es in Österreich praktisch noch keinen einzigen Demografen. Mittlerweile sind es im Großraum Wien doch fast 80.

STANDARD: Gibt es Gründe, warum das Fach in Österreich und wohl auch in Deutschland so lange unterentwickelt war?

Lutz: Das Problem im deutschsprachigen Raum ist, dass sich die Demografen während der NS-Zeit kompromittiert haben, weil sie sich Fragen der Rassenhygiene und ähnlichen Dingen widmeten. Deshalb gibt es an den Universitäten bis heute kaum einschlägige Ausbildungen. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, zusätzlich noch an der WU Wien tätig zu sein, um eine universitäre Anbindung zu finden und eine Ausbildung für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu gewährleisten.

STANDARD: Das tun Sie nicht zuletzt ja auch mit den 1,5 Millionen des Wittgenstein-Preises, die zu einem Gutteil in junge Forscher investiert werden. Was wollen Sie mit den jungen Kollegen erforschen?

Lutz: Mein Projekt nennt sich "Research Center for International Human Capital" , und im Rahmen dessen wollen wir demografische Methoden verwenden, um Fragen der Humanressourcen, also der Zahl der Menschen nach Alter, Bildung und Gesundheit in internationalen Vergleichen zu untersuchen.

STANDARD: Können Sie ein konkretes Beispiel dafür geben?

Lutz: Es gibt Zeitreihen für fast alle Länder der Welt, und auf ihrer Basis konnten wir zeigen, dass eine besser gebildete Bevölkerung mit einer sehr viel höheren Wahrscheinlichkeit ein demokratisches politisches System entwickelt als eine ungebildete. Das wollen wir jetzt zum Beispiel auch für den Iran zeigen.

STANDARD: Was konkret?

Lutz: Wir gehen aufgrund statistischer Analysen der Erfahrung aller Länder in den letzten 40 Jahren davon aus, dass es im Iran einen starken Entwicklungsdruck in Richtung Demokratie gibt. Der Grund dafür ist, dass der Iran im Nahen Osten nach Israel die am besten gebildete Bevölkerung besitzt und gleichzeitig, was wenig bekannt ist, den schnellsten Geburtenrückgang der Menschheitsgeschichte verzeichnete. Ich würde mich nicht wundern, wenn dort in den nächsten 20 Jahren eine moderne Demokratie entsteht.

STANDARD: Wie hat sich Österreichs Bildungsbereich im internationalen Vergleich entwickelt?

Lutz: Wir waren in den 1970er- und 1980er-Jahren im internationalen Vergleich gut unterwegs, seitdem gibt es aber eher eine Stagnation in unserem Bildungssystem. Länder wie Südkorea haben uns längst überholt: Dort hat beispielsweise schon rund die Hälfte der jungen Frauen einen Hochschulabschluss. Wenn wir da nicht aufpassen, werden wir noch von vielen anderen ehemaligen Entwicklungsländern überholt.

STANDARD: Sie betonen die Bedeutung der höheren Bildung eines möglichst großen Anteils der Bevölkerung, während in der Forschungspolitik stets von Exzellenz die Rede ist. Ein Widerspruch?

Lutz: Nein, im Gegenteil. Exzellenz in der Wissenschaft ist sicher notwendig, aber wir brauchen ein breites Fundament dafür. Das Problem der Exzellenz beginnt nicht zuletzt dort, wo die Wertschätzung dafür in der Bevölkerung nicht gegeben ist. Etwas polemisch würde ich sagen, dass diese Wertschätzung hier fehlt.

STANDARD: Ist es anderswo besser?

Lutz: Ich bin sehr oft in nordischen Ländern, weil meine Frau Finnin ist. Und da wird Spitzenforschung in der Bevölkerung viel stärker wahrgenommen auch hochgehalten - was damit zu tun hat, dass in Finnland mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Matura hat, während das hier ein weitaus geringer Prozentsatz ist. Um zu verstehen, warum Wissenschaft wichtig ist, brauche ich einfach ein gewisses Bildungsniveau. Das höhere Bildungsniveau wirkt sich natürlich auch noch anders positiv für die Wissenschaft aus: In den skandinavischen Ländern ist etwa der Pool, aus dem man Spitzenforscher rekrutieren kann, entsprechend größer als hier. Und auch die Politiker beziehen das Wissen der Forscher viel stärker in ihre Entscheidungen ein.

STANDARD: Wie sieht es denn mit der Anwendung Ihrer international angesehenen demografischen Expertise in Österreich aus?

Lutz: Unser Geschäft sind zunächst einmal die wissenschaftlichen Studien und keine Empfehlungen. In Ländern wie Großbritannien oder in Skandinavien haben die Politiker ihre wissenschaftlichen Berater, die ihnen ständig einen Überblick über den aktuellsten Forschungsstand liefern. Hier bei uns ist dieser wichtige Informationsfluss weitaus schlechter. Es wird leider in vielen demografisch und bildungspolitisch wichtigen Fragen zu schnell das Hirn ausgeschaltet, und man reagiert reflexhaft mit dem Rückenmark.

STANDARD: Immerhin scheint man in den letzten Tagen in der bildungspolitischen Debatte - Stichwort Gesamtschule und eingeschränkter Zugang zu Massenstudienfächern - womöglich wieder auf den Denkmodus umzustellen.

Lutz: Das wäre auch nötig, denn wir brauchen dringend ein radikales Überdenken unseres gesamten Bildungssystems vom Kindergarten bis zur Hochschule. Und wir brauchen nicht alles selbst neu erfinden. Da können wir sehr viel aus dem Ausland lernen, wo es weitaus besser funktionierende Bildungssysteme gibt - eben mit einer intern ausdifferenzierten Form einer Gesamtschule und einer gewissen Regelung des Hochschulzugangs. Niemand, der sich einigermaßen rational mit diesen Dingen beschäftigt, würde leugnen, dass das wichtig ist. Wenn die beiden Dinge in Österreich junktimiert werden müssen, soll mir das auch recht sein. Wichtig ist, dass das Hirnabschalten ein Ende hat. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.06.2010)