Maxim Biller, Esra. € 19,50/222 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.

Foto: Buchcover
Nun ist "Esra" also da, der zweite Roman von Maxim Biller. Und fast hätte man es ahnen können: Der Ärger bleibt auch diesmal nicht aus. "Du musst mir versprechen, dass du nie etwas über mich schreibst", lässt der Schriftsteller Maxim Biller die Titelheldin seines Buches den Icherzähler Adam anflehen. Der Schriftsteller Adam, Billers Alter Ego, windet sich: "Ich bin zwar niemand, der sich ständig Notizen macht und jede Sekunde seines Lebens für zukünftige Geschichten und Romane verplant - dennoch will ich nicht gesagt bekommen, worüber ich schreiben darf und worüber nicht. Das ist so, als nähme man mir die Luft zum Atmen."

Diese Luft hat sich Adam-Biller nicht nehmen lassen - und den dringenden Wunsch seiner Romanheldin, die "nicht sehen wollte, wie ein anderer sie sah", missachtet. Nun hat ihn die Wirklichkeit eingeholt: In Esra und ihrer Roman-Mutter Lale Schöttle erkennen sich zwei Personen wieder, die deswegen ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sehen. Sie haben beim Landgericht München eine einstweilige Verfügung gegen das Buch erwirkt. Allerdings mit zwiespältigem Ergebnis: Der Verlag darf das Buch nicht mehr bewerben - die ausgelieferten Exemplare dürfen aber weiter verkauft werden.

Was ist eigentlich passiert? Nicht viel, denn Biller erzählt eine Geschichte, die in erster Linie ihrer inneren Dramatik folgt und die nur eine Frage beantworten will: "Warum, bedeutete das Fragezeichen jedem, der Esras und meine Geschichte kannte, kann diese Geschichte nicht gut ausgehen - und wer wird Schuld daran sein?" Diese Frage zu beantworten ist denn auch schwierig genug: Adam, ein erfolgreicher jüdischer Schriftsteller verliebt sich in die erfolglose türkische Schauspielerin Esra. Beide haben bereits Kinder von früheren Partnern. Esras Exmann Frido, früher ein Freund des Schriftstellers, kann und will sich mit der Scheidung nicht abfinden und benutzt die gemeinsame Tochter Ayla als Druckmittel. Ayla leidet außerdem an einer heimtückischen Krankheit - was zur Folge hat, dass unter Esras mütterliche Fürsorge auch die Liebe zu Adam leidet. Zudem hat Esras Mutter Lela noch eine Rechnung mit Adam offen: In einer frühen Erzählung hat er sie - wie Biller in Wirklihkeit auch - als despotische Monarchin und böse Hexe beschrieben, die ihre Familie als ihr Privateigentum ansieht. Konstellationen also, die nicht nur die Liebe zwischen Adam und Esra scheitern lassen würden.

Wer will, kann also anhand einiger Details und mit ein wenig Wissen um ein paar Münchner Verhältnisse die realen Vorbilder für Esra und ihre Mutter rasch identifizieren. Aber ist das tatsächlich so wichtig? Das Spiel der Literatur mit Realität und Fiktion hat die Gemüter der Menschen immer schon erregt: Die Lübecker Gesellschaft sah sich einst durch Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks übel verleumdet - doch längst gilt das Buch als grandiose Schilderung des Niedergangs einer Familie und eines Berufsstandes. Auch der Adoptivsohn Gustaf Gründgens konnte jahrzehntelang verhindern, das Klaus Manns Roman Mephisto wieder veröffentlicht wird: Noch 1968 stellte das Bundesverfassungsgericht den Persönlichkeitsschutz des verstorbenen Gustaf Gründgens über das Grundrecht der Freiheit der Kunst - erst 1981 konnte das zeitgeschichtlich erhellende Buch wieder erscheinen. Auch Birgit Kempkers Prosawerk Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag wurde in Februar 2000 juristisch verboten und musste sogar eingestampft werden - der Betroffene hatte sich wieder erkannt und erfolgreich gegen die Zurschaustellung seiner intimen Erlebnisse geklagt. Dabei stellten Kempkers 195 Variationen des immer gleichen Vorgangs mehr eine literarische Versuchsanordnung dar als ein autobiografisch gefärbtes Bekenntnis. Zuletzt sorgte Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers für einen Sturm im Blätterwald.

Man kann Biller vorwerfen, dass er unverhohlener als andere Autoren seine Biografie benutzt, um diese Geschichte zu erzählen. Doch es macht Sinn: Er zeigt, beglaubigt durch seinen Lebenslauf, dass man in unserer Gesellschaft mit ihren halbgaren Beziehungen und den vielen Neben-, Unter- und Patchwork-Familien für die Liebe kämpfen muss - wie früher für das richtige politische System. Und er beschreibt, dass dieser Kampf für Kinder ausländischer Familien, die nicht im Land ihrer Kultur leben, noch um einiges schwieriger zu führen ist. Auch darf sein schlanker, angenehm zu lesender und aufs Wesentliche reduzierter Berichtsstil nicht mit journalistischen Darstellungsformen verwechselt werden - so mancher Nebensatz bietet in seiner Dichte noch Stoff für weitere Geschichten. Und viele Sätze sind eine kaum verbrämte Liebeserklärung an die Frau, die er nicht dauerhaft bekommen konnte.

In einigen Jahren wird, abgesehen von ein paar Voyeuren und Literaturstudenten, der reale Hintergrund ohnehin niemanden mehr interessieren. Aber ein wunderbares Buch über die Liebe in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche wird geblieben sein. (DER STANDARD, Printausgabe vom 19./20.4.2003)