Belgien wählt: Angst vor Krise und Spaltung des Landes prägten den Wahlkampf.

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Zum Glück hat die Weltmeisterschaft begonnen. Für die fußballbegeisterten Belgier ist das ein willkommener Anlass zum beliebten Spiel, alle Varianten durchzudebattieren, wer es auf welchem Weg bis ins Finale und zum Titel schaffen wird. Bei 32 Mannschaften in acht Gruppen gibt es viele mögliche Kombinationen.

Diese Abwechslung in der Disziplin "komplexe Logelei" kommt gerade rechtzeitig zu den vorgezogenen Wahlen am Sonntag. Deren Ausgang und die Frage, wer dann die Führung des Landes übernehmen wird, ist fast noch schwerer zu beantworten als die nach dem künftigen Weltmeister.

Gut zwanzig Parteien treten im kleinen Königreich an. Schon bisher sind elf im Bundesparlament vertreten (siehe Grafik) - nach Weltanschauung und Sprachenzugehörigkeit von Flamen und Wallonen jeweils fein aufgeteilt.

Das Wahlrecht und die Tatsache, dass die drei Regionen (Flandern, Wallonie, Stadt Brüssel) starke Autonomierechte haben, begünstigen die Zersplitterung. Seit den 1980er-Jahren gab es immer kompliziertere Regierungsbündnisse, zuletzt aus fünf Parteien. Ende April ist die Regierung von Premier Yves Leterme - eine Koalition aus flandrischen Christdemokraten, Liberalen und Sozialisten aus dem Süden - kläglich gescheitert, die fünfte Regierung in fünf Jahren. Auslöser war der Streit um eine Neuaufteilung des Wahlbezirks von 35 Gemeinden rund um die zweisprachige Hauptstadt Brüssel gewesen. Eine fast unlösbar komplizierte Sache, die nach Übereinstimmung der meisten Wahlbeobachter eines werden dürfte: noch komplizierter.

"Hier ist schon eine Großpartei, wer 15 bis 20 Prozent Stimmenanteil schafft" , staunte dieser Tage ein Botschafter, der seit 2008 im Land lebt. 2007 waren die flämischen Christdemokraten (CD) Letermes in Flandern noch auf 30 Prozent Stimmenanteil gekommen, knapp vor den Sozialisten in der (kleineren) Wallonie. Nun aber droht der traditionell dominanten CD&V der Absturz, im Norden wie im Süden. Nach jüngsten Umfragen fallen sie in Flandern unter 20 Prozent, während der SP im Süden mit rund 30 Prozent ein starker Sieg vorausgesagt wird.

Beides ist ein Ausdruck eines steigenden "Nationalismus à la belge" , eines unversöhnlichen Kampfes der Sprachregionen um Einfluss und Geld. In der Wallonie gilt die SP als verlässlicher Vertreter der "französischen" Interessen gegenüber den Flamen, steht für den Gesamtstaat.

Zentralstaat "verdampft"

Im Norden aber steht die nationale Volksallianz (NVA) von Bart de Wever, der für "Verdampfung" des Zentralstaats, für starke Regionen, aber auch für eine starke EU eintritt, vor einem Triumph. Laut jüngsten Umfragen kommen sie mit 26 Prozent auf Platz 1.

Die Zukunft der Regionen, die Staatsreform, sind dominierende Themen neben der Wirtschafts- und Schuldenkrise. De Wever, ein gelernter Historiker, der fünf Sprachen spricht, war lange in einem politischen Bündnis mit den Christdemokraten. So national und wirtschaftsliberal der Separatist auch agiert, so sehr tritt er aber auch Diskriminierung und Ausländerfeindlichkeit entgegen. In Flandern ist die NVA auch in der Regionalregierung. Die Folge: Die Rechtsextremen, die offen rassistisch und ausländerfeindlich agieren und bisher stark wuchsen, sind im Abwind. Das gilt für den Vlaams Belang im Norden (der die Hälfte seiner 20 Mandate verlieren könnte) wie den Front National in der Wallonie. Er dürfte aus dem Parlament fliegen.

Premierminister kann der umstrittene de Wever dennoch kaum werden, aber "Königsmacher. Als Kandidaten dafür gelten die Christdemokratin Marianne Tyssen, oder der Sozialist Elio di Rupo aus dem Süden. Viel hängt dabei vom Abschneiden der Grünen ab, die in beiden Landesteilen leicht zulegen dürften, und von den mitregierenden Liberalen, die in Umfragen schwächer sind. Die Regierungsbildung wird Monate dauern, mit ungewissen Folgen auch für Europa: Belgien übernimmt am 1. Juli den EU-Vorsitz. (Thomas Mayer aus Brüssel/DER STANDARD, Printausgabe, 12.6.2010)