"Vitaminbar" von James Irvine

Stehleuchten von Marc Newson

Kaum halten die Taxis, hupen die Lieferwagen. Hier in der Via Tortona, im Süden Mailands, herrscht Hektik. Denn am Vorabend der wichtigsten Möbelmesse der Welt, der "I saloni", trifft sich die Szene in den Hallen des Superstudio Più. Und noch währende die neugierige Schar einfällt, tackern Handwerker Plakate an, packen Prototypen aus. An dem Unfertigen stört sich niemand.

Erwartet der anreisende Tross doch vor allem bei Cappellini eine Show. Und wie in jedem Jahr, ein elegantes Lehrstück über Präsentation und Inszenierung. Doch das fällt in diesem Jahr aus. Hilflos baumeln die bunten Buchstaben C-a-p-p-e-l-l-i-n-i von der Decke, uninspiriert und langweilig stehen die jüngsten Entwürfe auf grünen Teppichen in der Halle: Stühle und Tische, Regale und Sessel, entworfen von den derzeit angesagten Designern der Welt, die Giulio Cappellini in den vergangenen Jahren entdeckte. Aber vom innovativen Geist des risikofreudigsten Möbelverlegers Italiens ist heuer nur wenig zu spüren. Nun, da die Branche über Umsatzrückgänge klagt, scheint auch hier das Motto zu gelten: nur kein Risiko eingehen. Aber dieser erste Eindruck täuscht. Gleich neben Cappellini, in den Räumen des Herstellers Magis, findet sich eine Vielzahl experimentierfreudiger Entwürfe: ein Stuhl aus Styropor von Enzo Mari, oder ein Zigarettenetui von Axel Kufus. Dieses bietet nur drei Zigaretten Platz, was vom lasterhaften Dauerqualmen zum genussvollen Rauchritual führen soll.

"Air Armchair"

Und wieder hat Jasper Morrison dem Programm einen Stuhl hinzugefügt. Womit der stille Brite wieder demonstriert, was öde Retro-Kopiererei von der behutsamen Suche nach archetypischen Formen unterscheidet: Der Stuhl "Air-Armchair" erweist mit seiner Rückenlehne, die in großzügigem runden Schwung in die Armlehnen übergeht, einem Klassiker seine

Referenz: dem Schreibtischfauteuil Nr. 209, das 1904 von August Thonet entworfen wurde. In diesem Kunststoffmöbel erzählen vertraute Formen Geschichten, ganz ohne dabei platt nachzuplappern: feinster Minimalismus. Aber auch der Wille, diesen Minimalismus zu erweitern, ist erkennbar - immerhin greift er inzwischen wie ein dogmatischer Virus um sich. So werkelt Konstantin Grcic, der bislang als Meister zweideutiger Objekte und Freund dezenter Referenzen gefeiert wurde, fantasievoll an neuen Formen. Er probiert, nunmehr im zweiten Jahr, durch Gitterstrukturen und verschränkte Dreiecksflächen zu Neuem zu gelangen. Bei Magis sind diese überaus gewagten Experimente in Form eines Barhockers zu besichtigen. Ein Möbel, dessen Sitz und Bein an die Kuppeln von Richard Buckminster Fuller erinnern. Und als Volumenmodell ist bei Classicon ein Stuhl im Programm, der laut Grcic durch die Möblierung in Kinosälen inspiriert ist.

Darüber hinaus hat Classicon dem Münchner Designer eine Publikation gewidmet, die mit viel Tam-Tam als Buch angekündigt wurde. Schade nur, dass dieses Werk - und das viele schöne Geld, das dafür investiert wurde - wenig zur Einsicht in Grcic's umfassende Arbeiten beiträgt. Statt dessen werden vor allem Grcic's Projekte für Classicon bildreich und wortarm thematisiert. So ist es eher ein nobel produzierter, aber profaner Prospekt denn ein kluges Buch - frei nach der engstirnigen Losung deutscher Unternehmer: nur nicht die Konkurrenz bewerben. Und das, obschon bekannt ist, dass mit gefeierten Namen - und dazu tragen richtige Bücher bei - gute Publicity zu erzielen ist.

"De-Lighted"

Den Hersteller DuPont mag dies bewogen haben, drei der weltbekannten britischen Designer zu dem Projekt "De-Lighted" einzuladen. James Irvine, Ross Lovegrove und Marc Newson oblag es, dem Material "Corian" Licht zu schenken. Was Marc Newson einen farbenprächtigen Wald aus flimmernden Stehleuchten entwerfen ließ, die wie verkehrt herum hängende Luftballons strahlen. Während James Irvine einer runden Vitaminbar kleine grüne Lämpchen verpasst und Ross Lovegrove einen Boden zum Leuchten bringt, der einem farbigen Gartenteich gleicht.

Nur einige Meter weiter bespielt Dornbracht, ein Hersteller vornehmer Wasserhähne und Duschbrausen, die Flächen einer Industriehalle - und ist damit in direkte Nachbarschaft zum qualitätsverliebten Publikum des Superstudio Più umgezogen, um auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings nicht mehr so sehr mit Möbeln und Accessoires. Vielmehr vermag das Unternehmen mit einer gigantischen Dusche das Fachpublikum zu überzeugen. Ein Wasserspender, der fast natürlichen Regen zu imitieren im Stande ist, und dazu ein Wassereinlauf, der in rauschhaftem Schwall das Wasser fließen lässt. Das begeistert die Freunde purer Formen und des rechten Winkels. Bleibt indes die Frage, weshalb ein so überzeugendes Produkt von so pseudoklugen Wortschwall umspült werden muss.

"Selbst"

MEM hat man die Sanitärtechnik getauft, was übersetzt "Selbst" heißt. Dazu faselt Mike Meiré, der die Architektur der Präsentation entworfen hat, allerlei von Selbstreflexion und von mystischer Energie, die nun in unsere Waschkammern Einzug halten soll. Und das schwarze Rechteck, das der Armaturenserie als Wiedererkennung dient, jubelt er zu einem "neokonstruktivistischen Zitat" hoch. Die Spitze hemmungsloser Verdummung ist indes der sinnleere Leitsatz von MEM: "An seinem Ursprung ist der Geist reines Bewusstsein", trällert der Werbemann voller Sehnsucht, endlich einmal Bedeutendes zu verkünden. Bei derlei Peinlichkeit ist eine schnelle Flucht in die Messehallen sicher hilfreich.

Hier, wo im Salone Satellite die Nachwuchsdesigner ausstellen, wird man nämlich von scheinprofessionellem Getue verschont: Lieber zeigen die jungen Designer aus aller Welt brillante Ideen. Von denen das deutsche Fachblatt Design Report seit einigen Jahren die besten mit einem Nachwuchspreis ehrt. Ein Preis, der in diesem Jahr eindrücklich vorführt, worum es neben schlichten Funktionieren im Design noch gehen kann: um Poesie, um Momente der Heiterkeit, aber auch um kluge Produktideen. Als eine solche darf ein Tischbock durchgehen, den die Designer Patrick Frey und Markus Boge aus Hannover entworfen haben. Dieses sonst unbeachtete Möbel besticht durch seine Doppelfunktion, die mit einer Steckdosenleiste im Holm erreicht wird. Dennoch wirkt die Konstruktion keineswegs technoid, sondern überaus vornehm. Was mit einem kleinen Bändchen, mit dem die Stromleiste wie eine Lampe ausgeknipst werden kann, ungezwungen unterstrichen wird. Immerhin konnten die beiden Gestalter, die schon für den Möbelverleger Nils Holger Moormann Entwürfe lieferten, dafür von der Jury eine Anerkennung entgegennehmen.

"Studio MIR"

Wie auch die Gruppe "Studio MIR", die sich einem bislang ungestalteten Gegenstand gewidmet haben: dem Verlängerungskabel. Dieses erstrahlt nun mit einem leuchtenden Blob, der sich in der Mitte des Kabels hell aufbläht. Womit nun nicht mehr klar ist, ob es sich um ein Kabel oder eine kleine Bodenleuchte handelt. Was es endlich ermöglicht, Strom auf elegante Weise im Raum zu verlegen: Hier kreuzen sich banale Lösung von Wohnproblemen mit spielerischer Leichtigkeit.

So auch bei einer Leuchte, die von dem in Japan geborenen Kazuhiro Yamanaka gestaltet wurde: ein mit Helium gefüllter Ballon, in dessem Inneren eine winzige LED-Diode strahlt. Allein der schöne Name, "Fly to the Moon", lädt zum verträumten Sinnieren ein. Etwas, das der Empfänger des "Design Report Award" durchaus anstrebt. Er wolle nämlich, so sagt er, nicht Gegenstände gestalten, sondern die Stimmung in Räumen. Vielleicht hat Giulio Cappellini ja bei ihm vorbeigeschaut - um sich Empfehlungen für's kommende Jahr einzuholen. (Der Standard/rondo/18/04/2003)