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Die Straße nach Ölgii

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Der Hauptplatz von Ölgii

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Abends kriegt man immer das Gleiche. Fetten Hammelschwanz, ausgekocht in Flachsen an den Wirbelknochen hängend, halbgare Erdäpfel im Sud, etwas Schnittlauch drüber und pickigen Reis dazwischen, wenn's hoch hergeht "Salat" (russische Mixed Pickles aus der Dose).

Man sitzt schließlich nicht in Ulan Bator, der Mongolei-Hauptstadt, oder in einem der Nobel-Gobi-Tourismus-Camps, geführt von Investoren nur für Ausländer. Das Menu bleibt schmal, draußen in der Jurte gleichviel wie in den wenigen Ortschaften zwischen den Ebenen oder am Fuß leerer und unbestiegener Gletscherberge, am Rand Sibiriens und oberhalb der Wüsten von Xinjiang.

Die westlichste Stadt des Landes

Ölgii heißt die westlichste Stadt des Landes, höchst malerisch in Grashügeln, dahinter ein Dutzend Viertausender. Ölgii ist sozusagen eine "liebe" Ortschaft, im zirkelnden Stalinismus Inner- und Ostasiens ausgebaut, mit Schulen, Geschäften, vielen jungen Leuten und heftigen Staubfontänen, mit einem Theatergebäude im Stil europäischer Avantgarde so groß wie das Wiener Volkstheater, mit Kaschemmen, wo man seinen gekochten Hammel und sogar gelegentlich noch gebratene Teig-Dalken bekommt. Bier gibt es immer, Wodka noch mehr.

In Ölgii und den paar anderen ähnlichen Städten in der Westmongolei gibt es neben Buddhismus und Schamanismus nicht nur einen wachsenden islamischen Einfluss aus den Ländern der Ex-UdSSR, sondern auch eine Theatertradition der besonderen Art, vor allem mit kasachischen und chinesischen Wurzeln. Große Repräsentationsbühnen stehen da, werden bespielt mit Nationalepen oder von Nationalorchestern aus Pferdekopfgeigen oder, so wie weiland anlässlich der Parteitage, mit Chor, Soli und ein bisschen Turnen à la DDR zu deren hohen Marxismus-Festen. Die Spielstätten stammen manchmal noch aus der Zeit des europäischen Fin de Siècle und schauen auch so aus.

Wer die kaum 2000 Kilometer seit der Metropole mit Jeeps überwunden hat, erlebte in den acht Tagen zuvor wenig Lebendiges, aber Highways als tiefe Fahrrinnen, oft drei Dutzend nebeneinander, erlebte Einsamkeit, Milliarden an Gelsen, Nomaden auf dem Lkw, Dörfer mit Industrieruinen wie ein kaputtes und zerfressenes Gebiss.

Aber Ölgii ist ein lieber Ort

Und Ausgang für einen der seltsamsten Plätze der Welt. Das heißt, es stellt sich die Seltsamkeit erst auf den zweiten Blick ein. Und das kommt so: Da treffen ziemlich im Zentrum des Monsterkontinents wie Radien in einem Kreismittelpunkt vier ebenfalls Monstren aufeinander. Die Grenzprovinz ist schmal, so wie das Gebiet einer hiesigen Bezirkshauptmannschaft vielleicht. Kein Mensch schert sich um Fremde im Vierländereck.

Die Dörfer am Weg bemerkt man erst, wenn man aus den Steinhütten oder Lehmmauern schon wieder draußen ist. Niemand kontrolliert, obwohl sich rundum gesperrte Gebiete befinden (sollen), Nationalparks, Strategisches, Jagdfelder für die schon beinahe ausgerotteten Bergschafe mit den mehrfach gedrehten Hörnern. Eine bloße Abschussbewilligung macht so viel aus wie das Jahresbudget aller Dörfer zusammen.

Immer höher

Die Welt wird weiter. Bekommt ein 360-Grad-Cinemascope auf rund 3300 Metern Seehöhe. Ein Grat aus Steinen, am höchsten von ihnen Platz genommen, wie ein König auf seinem Thron. Nachvollziehend im langsamen 360-Grad Kopf- und Körperverdrehen sich umgeschaut: Also, dort im Norden, das gehört schon zu Russland, Gletscherzüge reihen sich aneinander, quasi Alpen auf Karg, in der überklaren Luft auch Hunderte Kilometer zu verfolgen. Dann geht es ähnlich weiter, so links um den imaginären Radiuspunkt, nach Kasachstan hinein.

Die weicheren Berge verlieren sich mit der Sonne, dahinter breitet sich eine brettelgrade Ebene aus, sowieso kaum mehr als 2500 Kilometer lang. Unten im Süden liegt Westchina mit den größten Schlackenfeldern der Erde, Ausdehnung: vier bis fünfmal Österreich. Und hinter einem ruht die Mongolei, ruht in sich, arm, ein von der Natur gepeinigtes Gebiet, aber in stiller Überwältigung für Europäer, die gewohnt sind, dass alle paar Meilen sich Land und Leute verändern. Es ist eine schweigsame Symphonie im Nirgendwo. So weit weg, dass sich hier nicht einmal mehr "die Füchse gute Nacht sagen" würden. Und dann bewegt sich doch was, kommt wie eine Fata Morgana daher, zuerst über ferne, dann über die unter dem Felsriff gelegenen Steppen. Wilde Kamele, zweihöckrig, in Kielformation sich anpirschend, neugierig. Sie lassen sich verscheuchen, drehen aber nach einigen Wiegeschritten wieder um, kommen und machen Wellen in der Luft; verärgert, denn man ist gern ungestört an so einem der seltsamsten Punkte der Welt. Die Trucks, die sollen doch meinetwegen vorbeirauschen in den Erdschienen. Aber warum hocken da oben jetzt fremde Leute und tun nichts?

Apropos sitzen

Wenige Schritte hinein in die niedrigen Stauden - und wieder einmal stehen die Älpler etwas konsterniert vor einem Blumenmeer, grau und silbrig, geduckt, aber in ganzen Polsterketten aneinander gereiht. Man nennt die pelzigen Blüten "Edelweiß". Die Sache gilt in Mitteleuropa als hoher Frauen-Bewerbungs-Faktor mit Mutprobeneffekt. Ein im Fels unter Lebensgefahr gebrocktes Blümchen verspricht die nachmalige Gunst der Beschenkten.

Da in Innerasien (wie auch noch weiter südwestlich auf den Weiden des oberen Hindukusch und des tieferen Karakorum) wachsen die hellen Sternlein als Massenware, dem Heidekraut ähnlich. Man kann auf den dicht ineinander verknoteten Edelweißpolstern wie auf Rummelplatz-Luftkissen herumhupfen, kann sich drauflegen und dann auf circa zehntausend Edelweißköpfen im hintersten Kreuzungspunkt der Erde einschlafen. (Der Standard/rondo/18/04/2003)