Zürich/Bern/Berlin/München/Frankfurt/London/Paris/Madrid - Dass Amerika seinen militärischen Sieg im Irak für Drohungen gegen Syrien nutzt, beschäftigt auch am Mittwoch zahlreiche europäische Pressekommentatoren.

"Neue Zürcher Zeitung":

"Kaum hat sich der Pulverdampf nach dem militärischen Sieg der USA im Irak verzogen, sieht sich Syrien einer Flut amerikanischer Vorwürfe ausgesetzt. Kein Zweifel, Syrien sieht sich in völlig neuen Umständen, und libanesische Beobachter berichten aus Damaskus über eine aufgewühlte politische Führung. Von den zwei arabischen Baath-Regimen ist nach der Zerschlagung von Saddam Husseins Staat nur noch eines, dasjenige von Damaskus, übrig (...) Syrien teilt nun eine Grenze von rund 600 Kilometern Länge mit den amerikanischen Besetzern und später wahrscheinlich mit einem pro-amerikanischen Regime in Bagdad. Die natürliche Fortsetzung des fruchtbaren Halbmonds entlang dem Euphrat-Tal, der ältesten Nabelschnur zwischen Levante und Zweistromland, führt nun in einen amerikanischen Hinterhof (...) Damaskus baut mithin darauf, dass kein politisches Dossier wie dasjenige gegen Saddam Husseins Irak bereit liegt, welches Amerika zur Rechtfertigung einer zweiten militärischen 'Sanierungsaktion' heranziehen könnte."

"Der Bund" (Bern):

"Damaskus fühlt sich hintergangen. Es hatte (im UNO-Sicherheitsrat) der Resolution 1441 zugestimmt, weil US-Außenminister Powell zugesichert hatte, die Entschließung sei kein Vorwand, gegen den Irak Krieg zu führen. Diese Zusicherung in Form eines Briefes wurde von der britischen Zeitung 'The Guardian' am 2. November abgedruckt. Powells Brief wurde vom syrischen UN-Botschafter mehrmals öffentlich bestätigt. Die scharfe Kritik Syriens am Krieg gegen den Irak ist vor diesem Hintergrund zu sehen und zu verstehen. Ob die massiven US-Vorwürfe an Damaskus gerechtfertigt sind oder nicht, das lässt sich (noch) nicht schlüssig beweisen. Klar indessen ist: Das autoritär regierte Syrien passt nicht in die Propaganda-Vision der Washingtoner Falken vom 'neuen Nahen Osten' . . ."

"tageszeitung" (taz) (Berlin):

"Als nach dem 11. September in Washington die Forderung nach einem Angriff auf den Irak mehr oder weniger offen ausgesprochen wurde, klang sie ähnlich unglaublich wie die derzeitigen gegen Syrien. Die Äußerungen des Präsidenten belegen - und das ist ausreichend Grund zur Besorgnis -, dass die noch sehr viel offener redenden Strategen aus dem Umfeld der Bush-Administration keine Spinner sind: Pentagon-Berater James Woolsey etwa spricht schon offen von einem neuen 'Weltkrieg'. Ob und wann die Bush-Administration weitere Schlachten plant, hängt vor allem von der innenpolitischen Entwicklung in den USA ab. Es könnte sein, dass vielen Amerikanern die 'Stars and Stripes' auf einer Saddam-Statue in Bagdad ausreichend Genugtuung sind für die Anschläge von New York und Washington. Es kann aber auch sein, dass die Bush-Administration alles tut, um die Kriegsstimmung aufrecht zu erhalten: Wenn die Wiederwahl Bushs in anderthalb Jahren wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage gefährdet sein sollte, könnten seine Berater eine neue Konfrontation für nützlich halten."

"Abendzeitung" (München):

"Bush will an Syrien ein Exempel statuieren. Täglich steigern die USA den Druck auf den Nachbarstaat des Irak. Der britische 'Guardian', dass im US-Verteidigungsministerium schon grobe Angriffspläne gegen Syrien erarbeitet wurden (...) Schon der Umstand, dass Minister Rumsfeld für den Ernstfall vorsorgen ließ, gilt als klare Drohung - zumal die Forderungen an den syrischen Präsidenten Assad immer deutlicher werden. Mit dem Verweis auf Massenvernichtungswaffen und die unterstellte Unterstützung von Terroristen hatten die USA auch den Irak-Krieg gerechtfertigt..."

"Frankfurter Rundschau":

"Zwei Wegmarkierungen stehen auf der Landkarte des neuen Nahen Ostens, die George W. Bushs Regierung zeichnet: Eine, ein sehr kompliziertes Stück Polit-Kartographie, nennt sich 'Roadmap' und soll den Weg zum Frieden darstellen. Ob diese Straßenkarte realistisch ist, muss sich noch zeigen. Die andere Markierung benennt einen Umweg über Damaskus. Es kann der Kriegspfad sein, selbst wenn der europäische Generalvertreter der Washingtoner Zentrale, Tony Blair, erst einmal rät, abzuwarten und Tee zu trinken. Die militanten Nebengeräusche jedenfalls sind zu laut geworden, als dass man sie noch überhören könnte (...) Israels Bulldozer Ariel Sharon schiebt derweil Forderungen nach. Der Zusammenhang ist klar: Wer sich auf den Weg nach Damaskus begibt, kann sich nicht mehr an die 'Roadmap' halten. Wer sich aber einer Friedensregelung verschließt, die auch den Interessen der Palästinenser gerecht wird, zeichnet die Generalstabskarten weiterer Kriege."

"The Financial Times" (London):

"Die US-Entscheidung, nach dem Sieg im Irak Druck auf Syrien auszuüben, hat allerorten Besorgnis ausgelöst. Washington hat Ärger und Alarm in der arabischen Welt damit ausgelöst, seine verbale Feuerkraft auf Damaskus zu richten. Die US-Haltung hat auch in Europa Bestürzung ausgelöst, im 'alten' wie im 'neuen'. (...) Auch wenn die USA glauben, dass es dringliche Fragen gibt, die Syrien beantworten muss, ist der Zeitpunkt für die Drohungen ungeschickt gewählt. Sie können nur sinnvoll sein in einem größeren Zusammenhang, nämlich Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zu schaffen, und dies auf der Basis des Friedensplans, den Bush nach eigenem Versprechen vorlegen will, sobald eine reformorientierte palästinensische Regierung eingesetzt ist."

"Le Monde" (Paris):

"Der Krieg ist vorbei, doch nicht alles ist so verlaufen, wie es das Fernsehen gezeigt hat. Auch wenn Kriegskorrespondenten die militärischen Einheiten begleitet haben und der Eindruck entstand, dieser Krieg sei wesentlich ein Bodenkrieg gewesen. Der wirkliche Krieg, fern der Kameras, war jedoch zerstörerisch und unerbittlich. Das Ausmaß der Bombardierungen war ungeheuerlich. In drei Kriegswochen wurden über dem Irak 24.000 Bomben und Sprengkörper abgeworfen. Nach den Worten eines britischen Offiziers wurde ein Blutbad angerichtet. Wahrscheinlich wurden 30.000 irakische Soldaten getötet, sagte er. Und wie viele Zivilisten? Das wusste er nicht. Wer wird das jemals wissen?"

"Le Figaro" (Paris):

"Der Irak ist das Jugoslawien des Nahen Ostens. Was ist zu tun, um dieses ethnische und religiöse Mosaik, das von einer blutrünstigen Diktatur und drei Kriegen verwüstet wurde, in einen effizienten und demokratischen Staat zu verwandeln? Bei der ersten Konferenz der Opponenten Saddam Husseins auf irakischem Boden wurden die Antworten nur in groben Linien entworfen. US-Präsident Bush hat nach dem Triumph seiner Soldaten keinen Zweifel daran, dass der militärische Sieg in einen politischen Erfolg umgemünzt werden kann."

"El Pais" (Madrid):

"Die größte Gefahr des improvisierten Plans aus Washington ist, dass dieser von den Ereignissen auf der Straße überholt wird. Die US-Militärs sind verständlicherweise kaum darauf vorbereitet, die komplizierte Wirklichkeit eines Landes von Clans zu verstehen, in dem die Stammesführer bereits ihre Einflussgebiete abstecken, ähnlich wie es in Afghanistan geschehen ist. Und nicht nur sie: Der Millionär Ahmed Chalabi, der Favorit des Pentagon, um den Übergang zu leiten, beginnt im Süden des Irak sein politisches Lager aufzuschlagen - mit Hilfe Hunderter - von den USA eingeflogener - bewaffneter Männer und reichlich Geld. Die Situation ist explosiv. Denn nach Jahrzehnten der Unterdrückung sieht die Mehrheit der Irakis die Exilanten, die Anspruch auf die Macht erheben, wie Raubvögel, die gemütlich im Ausland auf ihre Beute gewartet haben.

(APA/dpa)