Ein Serienmörder, gespielt von Peter Lorre, versetzt Polizei wie Unterwelt in Schrecken und Hysterie. Fritz Langs "M" von 1931 löste politische und ästhetische Debatten aus.

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Eine Tagung in Wien geht den ambivalenten Mythen und Deutungen rund um den Klassiker des deutschen Films nach.

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Als Fritz Langs Film M - Eine Stadt sucht einen Mörder 1931 in Deutschland ins Kino kam, schrieb der Filmwissenschafter Siegfried Kracauer eine anerkennende Besprechung, in die sich aber doch distanzierte Töne mischten. Er sah in der Geschichte eines Kindermörders, den die Polizei wie die Unterwelt gleichermaßen suchen, einen starken, zeitgenössischen Stoff, der "in blendenden Reportagen verarbeitet wurde" . Er sah aber auch, dass der Starregisseur der Weimarer Republik, der Schöpfer der Nibelungen und von Metropolis, auch in M nicht vollständig auf der Seite der Sachlichkeit blieb: "Ein Massenmörder betrifft uns in dieser Zeit mehr als etwa Hagen. Allerdings gibt Lang den Mythos nur preis, um auch das aktuelle Geschehen zu mythologisieren."

Als Kracauer dies schrieb, und als die Massen in die Kinos strömten, um M zu sehen, war das Ende der Weimarer Republik vielleicht schon abzusehen, aber natürlich wusste noch niemand, was wir heute wissen: dass zwei Jahre später mit der Machtergreifung Adolf Hitlers das dunkelste Kapitel in der Geschichte Deutschlands begann. Kracauer selbst schrieb später die berühmteste Filmgeschichte dieser Jahre, die schon im Titel deutlich zu erkennen gab, dass er sie von deren Ende her dachte: In Von Caligari zu Hitler tauchte auch M wieder auf, allerdings auch hier wieder im Zeichen einer Ambivalenz, die nach Meinung von Kracauers Kritikern nicht ausreichend Berücksichtigung fand.

Filme als Zeichen ihrer Zeit

Fritz Langs Klassiker wird heute vielfach nostalgisch gesehen, als Beweis für eine verlorene Größe des kommerziellen deutschen Kinos, die politischen und ästhetischen Debatten scheinen weitgehend überholt zu sein. Dass dem nicht so sein muss, versucht von 16. bis 18. Juni eine Tagung am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK)in Wien zu beweisen. "Signs of the Times. Fritz Lang's ,M‘ and the End of the Weimar Republic" will den Anspruch von Kracauer einlösen - Filme als "Zeichen ihrer Zeit" zu lesen. Zugleich verrät das Programm aber auch, dass es nicht mehr um eine Meistererzählung gehen kann, sondern eben tatsächlich um eine vielfach facettierte Lektüre von Zeichen, aus denen sicher keine lineare Geschichte und schon gar kein massenpsychologisch disponierter Geschichtsverlauf abzulesen sein werden.

Konzipiert wurde diese Tagung von Anton Kaes, der in Berkeley Deutsche Literatur und Film unterrichtet, und der in einer seiner wichtigsten Publikation das Erkenntnismoment im Vergleich zu Kracauer signifikant verlagerte: Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film (1987). Über M schrieb Kaes: "Der Film entwirft ein zutiefst verunsichertes Bild der deutschen Gesellschaft um 1931 - ohne Vertrauen auf die Ordnungsmacht des Staates, misstrauisch, selbstzweifelnd, klaustrophobisch, kontrolliert und totalitär, eine Gesellschaft, die ebenso zerstörerisch ist wie die Sexualität des Kindermörders." Dieses Zitat ist natürlich auch ergebnisoffen in Bezug auf die bald darauf auftretende Ordnungsmacht, die sich erst recht als Zerstörungsmacht erwies.

Es ist vor allem diese Ambivalenz, die auch in den Beiträgen zu der IFK-Tagung in unterschiedlichster Hinsicht thematisiert werden wird. So untersucht Elisabeth Bronfen (Universität Zürich) den zwiespältigen Status des Gesetzes in M, das ja durch ein offizielles und ein inoffizielles ("obszönes" ) Gericht vertreten wird. Durch einen Vergleich mit Langs erstem Film im amerikanischen Exil, Fury, will Bronfen diese Fragen vertiefen.

Konstruktion des Jüdischen

Galili Shahar, Wissenschafter in Tel Aviv, zieht die Verbindungslinien nach, die in der von Peter Lorre gespielten Figur des Mörders zu Konstruktionen des Jüdischen bestehen. Dabei ergeben sich Einblicke in einen "hysterischen Diskurs" , wie er nicht ungewöhnlich für die kulturellen Sphären der Weimarer Republik war. Anschlüsse bei Kracauer sollte vor allem auch Andrew J. Webber finden, der in Cambridge Deutsche und vergleichende Literaturwissenschaften lehrt. Er hat jüngst das Buch Berlin in the Twentieth Century: A Cultural Topography vorgelegt, und auch hier taucht das Ambivalenzmotiv wieder auf, denn Webber unterscheidet bei der Erschließung urbaner Topografien zwischen "topophilen" und "topophoben" Aspekten, und er findet selbige in M wie auch in weiteren Filmen, in denen diese Figur eine Wiederkehr in Berlin erlebt.

Der Sozialhistoriker Peter Becker, gegenwärtig als Senior Fellow am IFK, hat eine besonders interessante Perspektive auf Langs Arbeit gewählt: Er geht den Formen der Suche nach, die in M zu sehen sind - in vorher kaum gesehener Genauigkeit tauchen hier nicht nur neue Techniken und Strategien der polizeilichen Arbeit auf, sie gehen auch in die Gestaltung der filmischen Erzählung ein, als Parallelmontage zwischen den Experten der legalen und der illegalen Sphäre.

Einen speziellen Aspekt greift auch Karin Harasser auf, die sich seit längerem mit einer Kulturgeschichte der Prothese beschäftigt - wie sich erweist, war die Hand (ein zentrales Motiv in M) eine wissenschaftliche Obsession der 1920er-Jahre. Einer der Gründe dafür waren natürlich die zahlreichen Kriegsversehrten, von denen viele als Bettler oder Leierkastenspieler arbeiteten, und dabei auch ihre Verletzungen deutlich sichtbar machten. Auch das ist in M noch zu sehen, der tatsächlich in vielerlei Hinsicht eine Bilanz der Weimarer Republik darstellt - und auch ein Zeichen der kommenden Zeit. (Bert Rebhandl/DER STANDARD, Printausgabe, 09.06.2010)