Die beiden Schriftzeichen für den 4. Juni, dem Synonym für das Tiananmen-Massaker 1989, sind im Internet in der Volksrepublik Tabubegriffe, bei denen Chinas berüchtigte Firewall die Weitersuche automatisch blockiert. Findige Blogger schlagen den Zensoren immer wieder Schnippchen, indem sie etwa "35. Mai" schreiben, wenn sie den "4. Juni" meinen. Seit Montag reicht es, die Suchmaschinen mit dem Begriff "Ein kritischer Moment" und dem Namen von Expremier Li Peng zu füttern, dem noch lebenden 81-jährigen Hauptverantwortlichen für den Armeeeinsatz von 1989. An der Zensur vorbei erscheinen dann Kapitel aus seinem Tagebuch über das verbotene Thema.

Der Hongkonger Verlag New Century Press trat mit dem Scoop, Lis Tagebücher zu besitzen und zu veröffentlichen, Freitag an die Öffentlichkeit. Nur die Hongkonger South China Morning Post erhielt Vorabexemplare des Manuskripts, das erst am 22. Juni in die Auslieferung kommt. Doch allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz gerieten Scans der 279 Seiten schon Sonntag ins Internet. Zum Zorn der Pekinger Kontrolleure können Zehntausende im chinesischen Inland und in Hongkong derzeit Li Pengs Tagebücher lesen, die allerdings weder vom Autor autorisiert noch in ihrer Echtheit bestätigt sind.

Die Notizen, die sich Li zwischen 15. April und 24. Juni 1989 machte, wirken heute, 21 Jahre nach dem Massaker, großteils wie eine Rechtfertigungsschrift. Ihre Botschaft ist auf den ersten Blick simpel: Nicht er, sondern Chinas damaliger Spitzenpolitiker Deng Xiaoping habe die Armee gegen die Studentendemonstrationen marschieren lassen. Am 19. Mai 1989, als Li auf Befehl Dengs das Kriegsrecht über Peking verhängen musste, notierte er in seinem Tagebuch, dass Deng der Armee angeordnet hat, Blutvergießen in Kauf zu nehmen. Laut zweifelhaften offiziellen Angaben starben am 4. Juni 313 Menschen auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

Der Erkenntniswert seiner Tagebücher liegt darin, dass sie die Sicht eines noch lebenden Täters widerspiegeln und Druck auf Pekings Führung ausüben, sich ihrer unbewältigten Geschichtsaufarbeitung zu stellen. Die von Unzufriedenheit mit Korruption, Inflation und politischer Unmündigkeit ausgelösten Unruhen vergleicht Li mit dem Chaos der Kulturrevolution. "Was jetzt in Peking passiert, ist der größte Aufruhr seit Gründung der Volksrepublik. Von unserem Verlust der Kontrolle her gesehen ist das schlimmer als die Kulturrevolution." Solche Eingeständnisse zeugen davon, in welchen Angstpsychosen sich die Führung 1989 verrannt hat.

Lob für Wen und Hu

Wirklich neu in Li Pengs Tagebüchern sind Äußerungen über die heutigen Führer, die er in Mitverantwortung für 1989 nimmt. So lobt er Chinas Premier Wen Jiabao, der 1989 ZK-Büroleiter war. Wen galt damals als Vertrauter des liberaleren Parteichefs Zhao Ziyang. Am 21.Mai 1989 weigerte er sich aber, der Anordnung Zhao Ziyangs nachzukommen, den Volkskongresspräsidenten Wan Li aus dem Ausland zurückzurufen. Zhao hoffte, dass Wan eine Parlamentskrisensitzung einberufen würde, um das Kriegsrecht für ungültig zu erklären. Li Peng preist in seinen Notizen auch den heutigen Parteichef Hu Jintao für seine aktive Unterstützung der Militäraktion. Falls die Tagebücher echt sind, erklärt das, warum Pekings heutige Führung den 4. Juni 1989 nicht aufarbeiten kann. (Johnny Erling aus Peking /DER STANDARD, Printausgabe, 8.6.2010)