Noch heute sind Neundlinger (li.) und Katzmair begeistert von Frankreichs Show im WM-Finale 2006.

Foto: DER STANDARD

Während sich die Italiener in Zweierbeziehungen ergingen, bildete der zentrale Zidane Dreiecke in alle Richtungen. Dass dem Kopf des Spiels der Italiener Materazzi dann quasi einen Bruststoß versetzte, kann für die Visualisierung keine Rolle spielen.

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Standard: Wie kamen Sie auf die Idee, ein Fußballspiel netzwerkanalytisch zu betrachten?

Neundlinger: Wir wollten einem Mythos auf den Grund gehen. Dass es die Rapid-Viertelstunde wirklich gibt, war die These. Wir haben im Dezember 2003, bei Rapid gegen Sturm Graz, die erste mit der letzten Viertelstunde verglichen. Das Spiel endete 1:1, in keiner der beiden Viertelstunden fiel ein Tor. Aber über einen langen Untersuchungszeitraum ließe sich die Existenz der Rapid-Viertelstunde klar belegen.

Katzmair: Und natürlich ist der Fußball Spiegelbild von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Da gibt es viele Parallelen. Wer ist ein Schlüsselspieler? Diese Frage ist in jedem Netzwerk wichtig, die Schlüsselspieler werden immer identifiziert. Der Ball und seine Zirkulation, das ist ein exzellenter Untersuchungsgegenstand.

Standard: Eine oft geäußerte Kritik an den Netzwerkanalysen lautet, dass entscheidende Szenen in der Visualisierung oft keine Rolle spielen. Überzeichnet: In letzter Minute, beim Stand von 0:0, erzielt ein gerade eingewechselter Spieler das Siegestor. In der Analyse kommt er nicht vor.

Neundlinger: Es kann nicht unser Ansatz sein, entscheidende Szenen zu featuren. Uns geht's um die Struktur. Was sagt sie über die taktische Ausrichtung und die Umsetzung der taktischen Ausrichtung aus? Außerdem hat der Trainer mit der Einwechslung des späteren Torschützen ja auf etwas reagiert, was vorher war. Er hat das Netzwerk intuitiv erfasst.

Katzmair: Natürlich spielt der Zufall, die Tyche, im Fußball eine größere Rolle als in den meisten anderen Sportarten. Das hat uns Ex-Teamchef Josef Hickersberger in einem Gespräch bestätigt. Die schwächere Mannschaft gewinnt verhältnismäßig oft, das macht mit den Reiz des Fußballs aus. Krass ist der Gegensatz zu amerikanischen Sportarten. Im Baseball oder im Football geht's um Reglementierung, im Fußball geht's um Interpretation.

Standard: Und deshalb hat Inter Mailand gegen Barcelona und Bayern gewonnen? Zufällig?

Katzmair: Den absoluten Zufall gibt es nicht. Es gibt immer Strukturen, die den Zufall wahrscheinlich machen. Der bedingte Zufall, wenn man so will. Aber prinzipiell schaffen es schwächere Mannschaften nicht so gut, Dreiecksbeziehungen aufzubauen, sie bilden eher nur Zweierbeziehungen aus, ihr Spiel ist also vorhersehbarer.

Neundlinger: Inter-Trainer José Mourinho hat natürlich gewusst, dass Inter weder gegen Barcelona noch gegen Bayern das Spiel machen darf. Diese Differenzierung der Spielkultur ist für uns enorm interessant. Es gibt Teams, denen es um Ballbesitz geht, und es gibt reaktive Teams. Bei Inter sind Beziehungen auch in der Verteidigung klar auszumachen, beispielsweise wurde um Bayern-Spielmacher Robben im Finale ein Dreieck gebildet. Deshalb ist er kaum zum Zug gekommen.

Standard: Wie sieht die perfekte Mannschaft in der Netzwerkanalyse aus?

Neundlinger: Perfektion ist auch relativ. Aber was Inter gegen Barcelona und Bayern gemacht hat, das war im Rahmen seiner Möglichkeiten praktisch perfekt.

Katzmair: Und wir schwärmen immer noch von den Franzosen bei der WM 2006. Da hat ihre zentrale Figur Zidane in alle Richtungen Dreiecke gebildet. Das hat die Mannschaft enorm robust gemacht, sie hatte ein großes Repertoire im Spielaufbau, aber auch an Reaktionen auf Unvorhergesehenes. Gegenbeispiel dazu wären Teams, die von Hans Krankl trainiert wurden. Die waren stets sehr euphorisch, aber unreagibel.

Standard: Ich würde behaupten, dass die Einleitung einer Aktion oft mindestens genauso wichtig ist wie der Assist oder der Abschluss. Im Eishockey bekommt nicht nur der Torschütze einen Punkt, sondern auch jene zwei Spieler, die das Tor vorbereitet haben. Im Fußball werden seit relativ kurzer Zeit erst Torvorlagen gezählt, wieso hinkt er so sehr nach?

Katzmair: Der Fußball ist nicht so geeignet, einzelne Spieler zu individualisieren. Es ist kein Zufall, dass wir uns nicht Statistiken anschauen, sondern Beziehungen. Das Ganze ist mehr als die Summe der einzelnen Teile, das stimmt im Fußball wie sonst nirgendwo. Wenn der Ball zirkuliert, wird der Ball zum Helden, nicht ein Spieler. Die Wuchtel, wenn sie rennt, ist magisch.

Neundlinger: Es gibt eine Fetischisierung der absoluten Zahl. In Deutschland ist oft vom zweitkampfstärksten Spieler der Liga die Rede. Das ist Blödsinn, weil so ein Wert nur relativ sein kann. Schließlich ist jeder Spieler davon abhängig, in welcher Mannschaft er steht. Der Diskurs entspricht nicht der Komplexität, die das Spiel erreicht hat. Auch was wir tun, ist nur ein Anfang. Man muss eine Sprache entwickeln. Oft ist es eine Ausflucht - und wer nichts zu sagen hat, der schaut sich eine Statistik an.

Katzmair: Rankings sind ein Zeichen der Leistungsgesellschaft. Spieler präsentieren sich als Ich-AGs, haben ihren eigenen PR-Berater, ihren eigenen Psychologen, das ist schon ziemlich mühsam. Dabei ist der Fußball noch relativ resistent gegen die Ich-AGisierung. Eine Mannschaft ist wie eine Band. Da musizieren fünf Haberer miteinander, das sind in den seltensten Fällen fünf Ich-AGs.

Neundlinger: Wenn soziale Intelligenz fehlt, steigt die Absturzgefahr. Arnautovic ist ein Superkicker, aber nicht integrierbar. Scharner ist vielleicht Österreichs robustester Fußballer, aber er betreibt Fußball wie eine Einzelsportart. Auf dem Platz brauchst du ein Gefühl dafür, wie es deinem Mitspieler geht. Wenn der Badstuber den Ball hat, macht der Schweinsteiger automatisch ein paar Schritte auf ihn zu, um ihm Sicherheit zu geben.

Standard: Den Zufall könnte man aber auch eine Ungerechtigkeit nennen.

Katzmair: Natürlich ist Fußball manchmal ungerecht, und das ist gewollt. Deshalb wird jede Technik abgelehnt, die ihn gerechter machen könnte. Für die Amerikaner ist Fußball unerträglich, auch wegen der Ungerechtigkeit und wegen des Simulierens und Wehleidigseins, das es in amerikanischen Sportarten niemals geben darf. Die Schwalbe, versteckte Fouls - Fußball ist eine realistische Abbildung der Wirklichkeit, des Lebens. Even the losers get lucky sometimes, hat Tom Petty gesungen. Diese Romantik im Fußball ist schon okay.

Standard: Sie analysieren seit Jahren sämtliche österreichischen Länderspiele. Wieso hat sich Österreich nicht für die WM-Endrunde qualifiziert?

Neundlinger: Es ist ein Drama. Seit vielen Jahren formt sich keine Mannschaft, etliche bleiben im Team unter ihren Möglichkeiten. Bei der Heim-EM wäre viel möglich gewesen, ebenso in der WM-Qualifikation. Da wurden zwei große Chancen vergeben.

Katzmair: Das Manisch-Depressive unserer Kultur erschwert es, eine echte Robustheit, eine Identität zu entwickeln. Es fehlt die Story. Und wenn ein Trainer mit ein bisserl System daherkommt, gilt er schon als Intellektueller.

Neundlinger: Es gibt bei uns nur ganz wenige Trainer, die kapieren, dass das Spiel ein anderes geworden ist und dass man anders arbeiten muss. Dabei ruht in der taktischen Leistungsdiagnostik das größte Potenzial. Beim Rennen und Springen ist ja kaum noch Entscheidendes herauszuholen. Aber in Österreich ist der Schein wichtiger als die Substanz. So gesehen ist das schöne Stadion in Klagenfurt, wo bald nur noch Regionalliga gespielt wird, das beste Symbol für den österreichischen Fußball.

Katzmair: Schon im Nachwuchs fallen viele Intelligente, Sensible und Kleine hinaus. Kinder werden wegen körperlicher Unterschiede aussortiert, das ist beinahe alte DDR-Schule. Und dann hast du im Nationalteam halt lauter brave Soldaten.

Standard: Das Netzwerk auf dem Spielfeld ist auch Reaktion auf Abläufe neben dem Spielfeld. Stimmen Sie zu?

Katzmair: Was passiert im Vorstand eines Vereins? Was passiert auf dem Transfermarkt? Entscheidende Fragen. Und jedem Spieler fällt auch in der Kabine eine Rolle zu. Da gibt es den Clown, da gibt es den Philosophen, da gibt es den, der den Überblick bewahrt. Und in einer wirklich guten Partie wird jeder verarscht, weil dadurch jeder integriert wird.

Standard: Wer wird Weltmeister?

Neundlinger: Bis vor zwei Monaten wäre ich von Brasilien überzeugt gewesen. Aber die Einberufungen waren teilweise seltsam, und Kaka ist nicht in Form. Spanien ist ausgebrannt und unter Druck. Argentinien ist offensiv überbesetzt und hat mit Maradona einen katastrophalen Teamchef. Deutschland hat keinen Stürmer, auch Frankreich hat keine Chance. Bleibt also doch nur Brasilien.

Katzmair: Die Deutschen. Der Sieg beim Song Contest genügt ihnen sicher nicht. ( Von Fritz Neumann und Sigi Lützow, DER STANDARD, Printausgabe, Montag, 7. Juni 2010)