Günther Kaips Im Fahrtwind ist eine Sammlung erzählerischer und lyrischer "Miniaturen" . Die Länge bzw. die Einheit der Texte ist dabei eher zweitrangig, ihr inhaltlicher und sprachlicher Rhythmus wird von Fahrtwind und Reisegeschwindigkeit strukturiert - in der Art wie sich für den Blick durch ein Zugfenster rhythmisch neue Ausblicke ergeben.

Andreas Okopenko hat diesen Kurztexten eine "schaurige Schönheit" attestiert, und diese resultiert aus dem kommentarlosen, nackten und plötzlichen Da-Sein ihrer Bilder und Formulierungen und den nahtlosen Übergängen zum nächsten kurzen Wahrnehmungsfenster. Wir haben es aber nicht mit Bewusstseinsstrom-Prosa im eigentlichen Sinn zu tun, sondern mit einer Art Umkehrung dieser Schreibtechnik, wo der innere Monolog sich einem externen Strom überlässt. Die Abfolge von Bewusstseinsinhalten ist hier nicht assoziativ verbunden, sondern der Text reflektiert, wie Bewusstsein vom anderen, von außen geformt wird.

Reales, Surreales, Fragmente, Nebensächlichkeiten und Geschichten wechseln sich ab. Es entsteht eine literarische Ästhetik, in der hohe Literatur und Kalauer, Empfindsamkeit und Schalk, Komplexität und Plakatives koexistieren. Das Ergebnis sind sprachliche Collagen oder Skulpturen, die keine narrativen oder lyrischen Ideen entwickeln, sondern eine Gegenwart vollständig abbilden wollen.

Die Titel lauten "Der Kragen" , "Eine Scherbe Nacht" , "Die Metallteile" , oder "Jeder Schritt hinterließ einen Fettfleck" . Da geht es um Flüchtlingsströme, das Selbstgespräch eines Drahtverhaus, Stühle verlassen den Saal, einer nagelt Fliegen an die Wand. Dazwischen leuchtet eine poetische Grundstimmung, da ist die Rede von Planeten, Horizont und Mondlicht. Auch Alltagssprache und -kitsch haben ihre Auftritte. Plötzlich herrscht Entrüstung: "Wo bleibt denn da der Anstand!" Ein Text wird mit "frisch duftenden Regentropfen" parfümiert.

Der Schreibstil oszilliert zwischen Phantastischem Realismus, Fabel, Kurzgeschichte, Aphorismus, Zauberspruch, Kochrezept oder Verkaufspräsentation. Dann wieder schließt ein Text mit einem märchenhaften "Genau so war es" . Bei aller Vielfalt bleibt der Grundton lakonisch bis nachdenklich, und im Grunde liest sich Im Fahrtwind wie ein Werkstattbericht: Günther Kaip ist ein Autor, der sich langsam eine eigene Form erarbeitet. Oft wirkt sie ausgereift, manchmal scheint sie noch in den Kinderschuhen zu stecken.

Dem Autor gefällt beides, die Unvollkommenheit ebenso wie der Schatten, den die endgültige Form vorauswirft. Kaip hantiert nicht hinter den Kulissen mit hohen Ansprüchen, greift nicht auf Fertigteil-Literaturstile aus der Avantgarde-, Krimi-, oder Romankiste zurück, produziert keine Metaliteratur und versteckt keine intertextuellen Bezüge. So sind diese Texte eine Einladung, in sein ganz eigenes Spracherlebnis einzutauchen. Und in den Takt seines Schreibens - in dieser Hinsicht erinnern manche Texte an Rock und Poplyrik, die ihre Wirkung erst entfaltet, wenn man mit dem Fuß den Takt dazu tappt.

Kaips "Miniaturen" entstehen nicht aus einem abstrakt erfassten Überbau, sondern aus einem halb-bewussten Unterbau, den er aus Lese- und Schreiberfahrung entwickelt hat. Im Fahrtwind reflektiert die Vielfalt und Gleichzeitigkeit an Raum-, Bild- und Spracherlebnissen, die die zeitgenössische Wahrnehmung prägen, und sucht nach einer Form, die dieser gerecht wird. (Matthias Goldmann, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 05./06.06.2010)