Vor genau 90 Jahren wurde der Friedensvertrag von Trianon unterzeichnet, der Ungarn als Mitschuldigen am Ersten Weltkrieg schwer bestrafte. Als unaufgearbeitetes nationales Trauma wirkt er in der ungarischen Politik bis heute nach.

Warum hat nur die Slowakei Probleme mit dem neuen ungarischen Gesetz über Doppelstaatsbürgerschaften für Auslandsungarn? Mit dieser Frage begegnen ungarische Diplomaten der Kritik an dem umstrittenen Gesetz. Ansätze zu einer Antwort liefert ein Besuch in der ungarischen Botschaft in der Wiener Bankgasse, einst Sitz der ungarischen Hofkanzlei. Dort gibt es einen "Preßburger Saal", in dem sechs monumentale Gemälde von der Krönung Maria Theresias zur Königin von Ungarn in Pressburg – der damaligen ungarischen Hauptstadt Pozsony – am 25. Juni 1741 hängen.

Magyarisierungspolitik

Was den Ungarn ihr Trauma von Trianon, das ist vielen Slowaken ihr ungarisches Trauma. Im kollektiven Gedächtnis der historisch gesehen jungen slowakischen Nation ist die Erinnerung an die rücksichtslose Magyarisierungspolitik in der ungarischen Reichshälfte, vor allem nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867, noch präsent. Wenn der slowakische Premier Robert Fico – wahlkampfbedingt in hysterischem Ton – die Doppelstaatsbürgerschaft für slowakische Ungarn als eine Bedrohung der nationalen Souveränität betrachtet, dann ist das auch vor diesem Hintergrund zu sehen.

Mit dem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz, das vom neugewählten ungarischen Parlament mit überwältigender Mehrheit beschlossen wurde, soll das Trauma von Trianon zumindest symbolisch gelindert werden. Heute vor genau 90 Jahren, am 4. Juni 1920, unterzeichnete die ungarische Delegation im Palais Grand Trianon von Versailles unter Protest das Friedensdiktat der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Ungarn wurde damit auf ein Drittel des Territoriums des Königreichs Ungarn in der Doppelmonarchie (siehe Grafik Seite 2), die Einwohnerzahl von 18 Millionen auf 7,6 Millionen reduziert, 3,2 Millionen Ungarn wurden mit einem Schlag Bürger anderer Staaten.

Späte Einsicht

Erst später reifte bei den Siegermächten die Einsicht, dass man die Ungarn zu hart bestraft hatte. "Wir mussten blind gewesen sein, da wir über Ungarn gar keine Informationen hatten und glaubten, eine solche Verstümmelung diesem Land aufzwingen zu können, ohne es in Verzweiflung zu stoßen", meinte der französische General Henri de Gondrecourt. Und der britische Ex-Premier Lloyd George, einer der bestimmenden Verhandler 1919, erklärte 1928: "Alle Dokumente, die uns während der Verhandlungen von unseren Verbündeten unterbreitet wurden, waren irreführende Lügen. Wir haben in Paris aufgrund von Fälschungen entschieden."

Dass ein historischer Einschnitt dieser Dimension in einem Volk über Generationen nachwirkt, ist eine banale Feststellung. Wie in Deutschland und in Österreich förderten die harten Pariser Friedensverträge das Hochkommen nationalistisch-faschistischer Ideologien. Unter dem autoritären Regime des Reichsverwesers Miklós Horthy wurde Ungarn zum Verbündeten Hitlerdeutschlands und stand nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf der Verliererseite.

Im Kommunismus war das Thema Trianon und ungarische Minderheiten im Ausland tabu – mit Rücksicht auf die sozialistischen Bruderstaaten. Nach der Wende 1989 hatte das Land zunächst andere Sorgen. Aber mit Einsetzen der Wirtschaftskrise und angesichts reformunwilliger oder -unfähiger Regierungen eignete sich das Trauma bestens zur politischen Instrumentalisierung. Mit dem ihm eigenen Instinkt erkannte der einstige Liberale Viktor Orbán das Mobilisierungspotenzial, das noch immer im Reizwort Trianon steckt. Zugleich wurde er aber auch zum Getriebenen der rechtsextremen "Jobbik"-Bewegung, deren Erstarken er mit seinen nationalistischen Tönen selbst befördert hatte.

Der allergrößte Teil der ungarischen Minderheiten im Ausland lebt heute innerhalb der EU. Ungarn selbst hat Minderheitengesetze, die als vorbildlich gelten. Da müssen Staatsbürgerschaftsgesetze, die in das Rechtsgefüge anderer Länder hineinreichen, doppelt anachronistisch wirken. Außer man beruft sich explizit auf eine EU-Bürgerschaft, die die nationale Zugehörigkeit dann eben zweitrangig macht. Aber die gibt es noch nicht.

Und so kann der ungarische Vizepremier Zsolt Semjén unter dem Beifall wohl der meisten seiner Landsleute sagen: "Es gibt keine Ungarn erster und zweiter Klasse. Es gibt nur eine ungarische Nation. Das ungarische Parlament ist dem einen, universellen Ungarntum verantwortlich und sonst niemandem." Als Einladung an die Nachbarn und das übrige Europa, den Magyaren beim Überwinden des Traumas von Trianon zu helfen, klingt das nicht. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 4.6.2010)