Neue Kompetenzen braucht die EU: Doch eine Wirtschaftsregierung samt Sanktionsmöglichkeit wird es ohne langwierige Vertragsänderungen nicht spielen, sagt Richterin Maria Berger.

Foto: Christian Fischer

STANDARD: Besteht die Gefahr, dass durch die Wirtschaftskrise EU-Recht aufgeweicht wird?

Maria Berger: Es ist sicherlich zu beobachten, dass in Krisenzeiten in der EU einige Augen zugedrückt werden, wenn man die Einhaltung der Kriterien für die Neuverschuldung oder die Beihilfen für Airlines im Gefolge der Vulkanaschenwolke nimmt. Da werden Kriterien vorübergehend nicht eingehalten. Die EU ist eben auch ein politisches Gebilde, da muss es möglich sein, in Krisenzeiten flexibler zu reagieren. Aber die rechtlichen Prinzipien stehen nicht zur Disposition, und daher ist es wichtig, mit der Normalisierung der Lage wieder zum geltenden Recht zurückzukehren.

STANDARD: Kann man nicht sagen, dass die Wirtschaftskrise in rechtlicher Hinsicht auch ein Reinigungsprozess ist?

Berger: In der Tat sollte man nicht übersehen, dass jetzt in der Krise Dinge beschlossen werden, die schon lange ausstehen und die zu mehr Verrechtlichung führen, siehe die Regulierung der Hedgefonds.

STANDARD: Das beschlossene Hilfspaket von 750 Milliarden Euro geht allerdings an die Grenzen des EU-Vertrags. Dass jetzt Mitgliedstaaten anderen Ländern Schulden abkaufen, war doch bisher ausdrücklich untersagt.

Berger: Ich gehe davon aus, dass diese Frage ausreichend juristisch überprüft wurde.

STANDARD: Speziell in Deutschland haben einzelne Abgeordnete mehrere EU-Verträge bereits vor das Bundesverfassungsgericht gebracht. Rechnen Sie damit, dass eine Klage gegen das EU-Hilfspaket auch beim EuGH landet?

Berger: Es ist nicht ganz auszuschließen, dass in dieser Sache etwas zu uns kommt. Wir nehmen, was kommt.

STANDARD: Die Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass Europa eine Wirtschaftsregierung braucht, wie von vielen Seiten bereits seit Jahren gefordert. Ist ein neuer EU-Vertrag notwendig?

Berger: Als ich Mitglied des EU-Parlaments war, haben wir im Konvent (2002-2003, Anm.) diese Forderung nach einer wirksameren gemeinsamen Wirtschaftspolitik inklusive einer Koordinierung der nationalen Budgetpolitiken eingebracht. Das scheiterte am Widerstand vieler Mitgliedstaaten. Ebenso müsste man zu Mehrheitsentscheidungen in der Steuerpolitik übergehen.

STANDARD: Das heißt, es wird wieder eine Vertragsänderung geben?

Berger: Ich weiß, dass diese Feststellung unpopulär ist, aber: Auch wenn man jetzt mit dem Wirtschaftshilfepaket noch anders über die Runden gekommen ist, wird es auf Dauer ohne Vertragsänderung nicht gehen. Zu einer EU-Wirtschaftsregierung braucht es zwar keine neue Institution, wohl aber mehr Kompetenzen für die Kommission und den Ecofin, den Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der Mitgliedstaaten. Ihnen muss man Kontrollinstrumente an die Hand geben, damit sie sowohl Maßnahmen empfehlen können als auch über Sanktionsmöglichkeiten verfügen, so wie Mitgliedstaaten ja auch sonst vor dem EuGH landen, wenn sie eine Richtlinie nicht umsetzen. Es kann doch nicht sein, dass einzelne Länder die Gemeinschaftswährung in Gefahr bringen. Und diese neuen wirtschaftspolitischen Kompetenzen der Union wird man nicht wie irgendwelche kleinen Änderungen über Beitrittsverträge in das EU-Primärrecht hineinschmuggeln können.

STANDARD: Welche Sanktionsmöglichkeiten hätte eine EU-Wirtschaftsregierung?

Berger: Das wird in den Verhandlungen - sollte es dazu überhaupt kommen - von den politisch Verantwortlichen zu klären sein. Im EU-Repertoire haben wir hier Verschiedenes, die simple Feststellung einer Vertragsverletzung, Geldbußen und Zwangsgelder, das Aussetzen von EU-Förderungen oder von Stimmrechten im Ministerrat.

STANDARD: Österreich ist seit 15 Jahren EU-Mitglied. Welche Gemeinschaftsbeschlüsse waren denn bisher so maßgeblich, dass sie dem Land wirklich etwas gebracht haben?

Berger: Da Österreich ein stark exportorientiertes Land ist, war für uns der wirtschaftliche Aspekt am wichtigsten, also die Binnenmarktregelungen an sich, damit wir in Europa nicht Außenseiter sind. Ganz besonders wichtig sind natürlich auch die Regelungen im Konsumentenschutz, von den Gewährleistungsfristen, der Produkthaftung bis zur Pauschalreise-Verordnung und den Fluggastrechten. Wobei das alles aufgrund gemeinsamer Impulse und gemeinsamer Beschlüsse zustande gekommen ist, und das heißt unter Mitwirkung Österreichs und nicht aufgrund von Fremdbestimmung.

STANDARD: Viel Staub aufgewirbelt hatte die Dienstleistungsrichtlinie. Hat sie die hohen Erwartungen bisher erfüllt?

Berger: Der Erfolg besteht gerade darin, dass es nicht zu großen Änderungen gekommen ist. Das EU-Parlament hat sich bemüht, den Kommissionsentwurf zur Richtlinie so zurückzustutzen, dass es eben nicht zu europaweitem Lohndumping kommt.

STANDARD: War das ganze Vorhaben also ein Sturm im Wasserglas?

Berger: Das ist in Gesetzgebungsprozessen oft so.

STANDARD: Es heißt, der EuGH agiere mit seinen Entscheidungen allzu gesetzgebend. Wie geht es Ihnen mit diesem Vorwurf?

Berger: Sehr entspannt. Weil ich aus der Legislative weiß, dass Einigungen oft nur mit Formelkompromissen möglich sind. Und wenn dann der EuGH entscheiden muss, bleibt ihm natürlich mehr Spielraum.

STANDARD: Das ist kein Kompliment an die Legislative ...

Berger: Aber es ist das Problem jeder Legislative, dass nicht immer alles konsistent, widerspruchsfrei und vollständig ist und die Gerichte in der Folge einen großen Auslegungsspielraum haben. Mit dem Vorwurf, zu gesetzgebend zu wirken, haben auch andere Höchstgerichte zu kämpfen.

STANDARD: Die gesetzgebende Wirkung ist jedoch nicht die ureigentliche Aufgabe des Gerichtshofes.

Berger: Wir müssen uns in der Rechtsprechung immer überlegen, was der Gesetzgeber - der Rat und das Parlament - gemeint hat, oder auf anderem Wege zu einer Entscheidung kommen. Es geht hier immer um Bürger, die ein Recht darauf haben, ein Urteil zu bekommen, zum Beispiel zu ihren Rechten als Flugpassagiere. (Heike Hausensteiner, DER STANDARD, Printausgabe, 2.6.2010)