Man müsse "einen Extrakt aus dem Lebenswerk Bakunins" zusammenstellen, schrieb Hugo Ball, der Begründer des Dadaismus, im April 1915. Zwischen 1915 und 1919, also just in seinen dadaistischen Jahren, arbeitete der in die neutrale Schweiz emigrierte Lyriker an einem umfangreichen "Bakunin-Brevier" . Es sollte Leben und Ideen des Berufsrevolutionärs einer breiten Leserschaft bekanntmachen - libertäres Denken als Gegengift zu dem Nationalismus und Obrigkeitsdenken im wilhelminischen Kaiserreich.
Das Werk blieb Fragment. Erst jetzt ist es im Göttinger Wallstein Verlag erschienen. Hans Burkhard Schlichting und Gisela Erbslöh haben diese faszinierende anarchistisch-dadaistische Flaschenpost akribisch kommentiert und seine Entstehungsgeschichte in einem kenntnisreichen Nachwort rekonstruiert.
Es war das paneuropäische Wirken Michael Bakunins, das auf Hugo Ball in den Jahren des entfesselten Nationalismus so anziehend wirkte. Der romantische Revolutionär hatte im Lauf seines Lebens Freiheitskämpfer in Frankreich, Polen, Deutschland und Italien unterstützt, unterbrochen nur von Jahren erst im Kerker des Zaren, dann in sibirischer Verbannung. Alle Staaten und Monarchien sollten abgeschafft werden, ebenso fremdbestimmende Institutionen wie das Militär oder die Justiz - das kreative Chaos galt Bakunin als beste Voraussetzung für die Selbstverwirklichung des Einzelnen.
Anspruchsvolle Montage
Eine faszinierende anarchistisch-dadaistische Flaschenpost: Balls Bakunin-Brevier ist keine Biografie im üblichen Sinn, sondern eine anspruchsvolle Montage von Dokumenten von und über den russischen Anarcho-Revolutionär. Geordnet nach Bakunins Lebensgeschichte, liefern die Ausschnitte aus Briefen, Reden und Aufsätzen, die Erinnerungen und Tagebucheinträge von Freunden und Weggefährten ein vielschichtiges Lebensbild in Fragmenten - die passende Form für ein zerrissenes, abenteuerliches Revoluzzer-Leben. Ball selbst beschränkt sich bei der Zusammenstellung auf knappe Zwischentexte; ihm war das Authentische wichtiger als das Vermittelte, betonen die beiden Herausgeber.
Weshalb die eigentliche Leistung des Dadaisten, seine Sprach-Arbeit an seinen Materialien, erst im Rahmen dieser Edition sichtbar wird: Hugo Ball behandelte die ausgewählten Dokumente zunächst wie ein guter Redakteur, glättete und straffte die Textzeugnisse, von denen er etliche erstmals ins Deutsche übersetzte. Vor allem aber arrangierte er sie wie ein Dramaturg und wandelte Bakunins Rhetorik behutsam in Richtung einer dramatischen Rollenprosa. (Oliver Pfohlmann, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 29./30.05.2010)