"Der Aphoristiker beginnt an dem Punkt, wo er mit seiner Weisheit am Ende ist": Elazar Benyoëtz.

Foto: W. Fried

In Elazar Benyoëtz' vorletztem Buch Scheinhellig steht das Zitat eines Paul Koppel, das wie ein Wahlspruch klingt: "Mit Gott auf Biegen oder Brechen, / mit dem Judentum auf Gedeih und Verderb, / mit meiner Dichtung durch dick und dünn." Paul Koppel war der bürgerliche Name des gebürtigen Österreichers Elazar Benyoëtz, er hat ihn nicht abgelegt, wie man alte Kleider ablegt. Die Geschichte seiner Herkunft erzählte Benyoëtz einmal so: "1937 bin ich in Wiener Neustadt zur Welt gekommen, ein Jahr später sollte ich von ihr ausgeschlossen werden - das war der Anfang, und dieser hieß Anschluss. Ende 1939 erreichten wir, vier Köpfe, drei Rucksäcke, die Küste Erez Jisraels - das war die Rettung, und wir suchten Anschluss. Ende 1943 ist mein Vater, Yoëtz Gottlieb ben Elazar, gestorben - das war das Unglück."

Der Vater, Gottlieb Koppel, der sich in Israel "Yoëtz" nannte, "Ratgeber", wurde 1897 geboren, wie Theodor Kramer. Er führte eine Gemischtwarenhandlung am Hauptplatz von Wiener Neustadt und galt, wie schon der Großvater Alois (Elazar), als gottesfürchtiger Mann. Als der kleine Paul mit seinen Eltern und seiner Schwester Tel Aviv erreichte, hatte die Familie zwar Enteignung und Vertreibung hinter sich, doch aus der deutschen Sprache zog sie erst mit dem Tod des Vaters aus. Paul absolvierte eine Rabbinerausbildung, ohne das Amt je auszuüben. Er nannte sich Elazar Ben Yoëtz, also "Sohn des Ratgebers", und machte sich einen Namen als hebräischer Dichter.

Und doch blieb als offene Wunde "Österreich, / in dem ich, von Geburt an erschüttert, / zur Welt gekommen bin" . 1962 reiste er in "das mir fernste Land". Die Verhältnisse in Österreichs literarischen Kreisen waren damals durchaus verworrene und für Außenstehende schwer zu durchschauen; es herrschte eine amikale Nonchalance zwischen offiziell und stillschweigend entnazifizierten Autoren, inneren Emigranten und manchen jüdischen Rückkehrern. Benyoëtz nahm an der Feier zum 80. Geburtstag des von ihm geschätzten Dichters Max Mell teil, der nach seinem braunen Intermezzo sehr rasch wieder schwarz, also katholisch geworden war. Er lernte Hans Weigel kennen, der ihm als Rezensent lange Jahre die Treue halten sollte, und Jeannie Ebner, die ihn mit ihrer Warnung, seinen Wirkkreis auf Österreich zu beschränken, beeindruckte. Und er, der israelische Dichter, übernahm die Ordnung des Nachlasses von Richard von Schaukal, über dessen mit elitärem Gestus vorgetragenen Antisemitismus ihn Schaukals Kinder aufklärten.

Die Nebel begannen sich zu lichten, doch ehe klare Sicht zu gewinnen war, ging Benyoëtz nach Deutschland, um dort, als 26-Jähriger, der sich gerade erst anschickte, das Deutsch seiner Kindheit zurückzuerobern, ein kulturgeschichtliches Unternehmen von einschüchternden Ausmaßen zu begründen: die Bibliographica Judaica.

So weit Elazar Benyoëtz bei der Bergung des Schatzes deutsch-jüdischer Dichtung gedacht und Ausschau gehalten hat, so knapp hat er von allem Anfang an sein eigenes Werk dimensioniert: "Mein Ehrgeiz geht nicht dahin, mit vielen Worten viele Bücher zu produzieren, sondern mit wenigen Worten viele Bücher entbehrlich zu machen." Viele Bücher hat Benyoëtz dennoch produziert, sie sind in Dutzenden zu zählen.

Als er nach fünf Jahren nach Israel zurückkehrte, glaubte er, mit der deutschen Sprache fertig zu sein, dabei fing seine Geschichte mit ihr erst an. Das Deutsche war eben nicht nur die Sprache der Mörder, sondern auch die der Ermordeten. Oder wie Paul Celan sagte: "Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie musste nun hindurchgehen durch (...) furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede." 1969 erschien Benyoëtz' erster Aphorismenband auf Deutsch.

Der Philosoph Gershom Scholem, als Gerhard Scholem in Berlin geboren, 1897, wie Theodor Kramer und Elazar Benyoëtz' Vater, notierte in sein Tagebuch: "Der Aphorismus ist der Wille zur dreifachen Todsünde: Flachheit, Falschheit, Bequemlichkeit. Auch dies ist ein Aphorismus, soll aber keiner sein." Benyoëtz zitiert dieses Verdikt, um es nicht gelten zu lassen. Dennoch ist gerade er sich der genannten Gefahren stets bewusst.

Vom Aphorismus der wohlfeilen Witzigkeit und der "Sprachgrimasse" hält er sich fern. Seine "aphoristische Pointe" erweist sich, wie Robert Menasse meint, "nicht in der Zuspitzung, sondern in der Vertiefung" . Seine Mittel sind das Wortspiel, das er gleichwohl mit heiligem Ernst spielt, und die Haarspalterei am Haupt der Sprache. Die Verrückung und Hinzufügung winziger Wort-Segmente oder einzelner Buchstaben eröffnet neue Blickachsen auf das altbekannte Sprachgelände. Die Muttersprache schaut uns plötzlich unverwandt an.

Die Buchtitel sind dabei Programm: Worthaltung zum Beispiel, Vielleicht - Vielschwer oder Filigranit. Zuletzt Vielzeitig, eine Auswahl aus Benyoëtz' imposanter Korrespondenz, mit Adorno, Hannah Arendt, Nelly Sachs, Rose Ausländer und vielen weniger berühmten Weggefährten. Und der Band Scheinhellig: Die Überblendung von "scheinheilig" , "einhellig" und "hellem Schein" verrät, dass es hier einmal mehr um den göttlichen Funken geht, ohne den das Leben schal schmeckt. Sein allerjüngstes Buch, ein Kompendium mit Aphorismen aus dreißig Jahren, heißt Fraglicht. Die Kunst, etwas durch Erörterung zu erhellen und zugleich zu verdunkeln, speist sich aus einem Denken in Paradoxa: "Unklarheit macht deutlich".

Benyoëtz' vertrackte, seine Leser immer auch traktierende Spracharbeit hält die Balance zwischen Bemühung und Geschenk - denn: "Die Sprache ist tiefer als ihr Sinn." Wer tiefer schürft, fördert Verblüffendes zutage und wird dabei immer auch selbst überrascht - ein skeptischer Wortgläubiger. Um das Bildreservoir auszuschöpfen, das die Sprache in Redewendungen bereithält, bedarf es aber jemandes, der seinen Kübel wissensdurstig in den Brunnen senkt. So ist der durchaus selbstbewusste Satz zu verstehen: "Die Sprache macht mit mir, was ich will." Ein Paradoxon eben.

Der Weg aus der Lyrik in die angesehene, aber doch auf einem Nebengipfel des Olymps beheimatete Kunst des Aphorismus hat sich für Elazar Benyoëtz mit dem Wechsel der Sprache aufgedrängt, den Bezirk der Dichtung hat er damit gleichwohl nicht verlassen. Poetisch ist auch der Anspruch des Aphorismus. Weil man gewöhnliche Aphorismenbände nicht in einem Zug liest, sondern gleichsam gustierend, hat Benyoëtz für seine Bücher eine ganz eigentümliche Mischform aus Poesie und Prosa, Eigenem und Zitat eingeführt, die durch ihren Wechsel im Tempo den Leser mit dem langen Atem belohnt.

"Der Aphoristiker", sagt Benyoëtz, "beginnt an dem Punkt, / wo er mit seiner Weisheit am Ende ist." Deshalb wohl soll der Aphoristiker kein Apodiktiker sein. Viel eher ist Benyoëtz' Schreiben eine Art Gehen auf Zehenspitzen, eine nahezu tänzerische Bewegung, in der alles Lapidare und Gewichtige aufgehoben scheint.

Benyoëtz zitiert Hermann Broch: Das "Ringen um die neue Religiosität" sei wahrscheinlich das Einzige, "was den Menschen jetzt wahrhaft interessiert, mag es auch danach aussehen, als wäre die Weltwirtschaft das einzige Interessante". So stellt der Aphoristiker, vom Zweifel beflügelt, die Frage nach Gott so genau wie möglich und antwortet so ausweichend wie nötig. Sein Nachdenken ist eine Einladung zur Verunsicherung, denn "Quellenwert hat nur das Fließende". Das Buch Kohelet, das Juden wie Christen als Quelle göttlicher Offenbarung gilt, war ihm dabei immer Vorbild und Spiegelschrift: "Gott ist im Himmel, und du auf Erden; darum lass deiner Worte wenig sein." Gerade das Wenige bleibt haften, man wird es nicht mehr los. Auch das wusste Kohelet: "Die Worte der Weisen sind Stacheln und Nägel."

Der Theodor-Kramer-Preis ist eine verdiente Anerkennung für Elazar Benyoëtz und ein unverdientes Geschenk an Österreich, dass mit ihm auf einen verlorenen Sohn hingewiesen wird, der sich nie verlor und nie verlorenging, "unverloren, ja, trotz allem" , ein Sohn, den das Land nur allzu lang nicht suchen, ja nicht einmal vermissen wollte.

In Fraglicht findet sich der Stoßseufzer: "Um jeden Preis, nur nicht umsonst!" Dass Preise eitel sind und die Freude über Preise eitel ist und Haschen nach dem Wind - wer wüsste das besser als Kohelets gründlicher Leser? Das Anderssein als andere, die Distinktion wird schließlich nicht durch diejenigen bewirkt, die den Preis zuerkennen und verleihen, in ihr bestand vielmehr die Lebensleistung des Preisträgers: "Sich ausnehmen - sich nicht auszeichnen lassen".

Die Autorität des Aphorismenschreibers ist heute wohl nur noch in einer Geste des souveränen Abdankens auszuschöpfen. Was Elazar Benyoëtz über Kohelet sagt, den Prediger, der einst König von Israel war, das ist deutlich auf ihn selbst gemünzt, auf die stolze Bescheidenheit seiner Rede: "Seine Feder in Königsblau tauchend, / pflegt er seinen entthronten Stil". (Daniela Strigl, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 22./23./24.05.2010)