Es gibt eine Stelle in Tony Judts Buch über Das vergessene 20. Jahrhundert, an der er eine Auseinandersetzung zwischen dem britischen Historiker E. P. Thompson und dem polnischen Philosophen Leszek Kolakowski beschreibt. Er schildert, wie Thompson 1973 "überheblich und scheinheilig, halb auf seine eigenen fortschrittlichen Jünger schielend, ( ... ) aus der Sicherheit seiner englischen Gelehrtenstube" dem Denker hinter dem Eisernen Vorhang vorwarf, nicht marxistisch genug zu sein. Dieser konterte mit, wie Judt formuliert, "der vernichtendsten Kritik (...), die je in einer politischen Debatte vorgetragen wurde" .

Judts Sympathien sind eindeutig bei Kolakowski. Das hat inhaltliche Gründe und dürfte ebenso von persönlichen Motiven getragen sein.

Spätestens aus der Nach-1989-Sicht, doch in Wirklichkeit schon lang vorher musste jedem nicht-dogmatisch denkenden Menschen klar sein, dass gute Lehren für Leute, die im realen Sozialismus lebten, nicht angebracht, vielmehr zynisch oder dumm waren.

Noch verständlicher wird die Genauigkeit, mit der Judt ein dichtes Kapitel lang über den "Abschied von gestern?" sinniert, wenn man sich seine eigene Situation vergegenwärtigt. Er ist selbst Historiker und argumentiert immer wieder auch aus der Sicherheit einer Gelehrtenstube - früher sogar einer englischen, seit eineinhalb Jahrzehnten an der New York University.

Doch anders als viele Mandarine der Macht und auch viele Salondissidenten, die ex cathedra ihr Wissen gepachtet haben, hat er sich dem Zweifel ausgesetzt, die Wirkkräfte der Geschichte hinter dem Nebel der Phrasen gesucht und gelernt, Dinge in neuem Licht zu betrachten.

Als Zeithistoriker gilt sein Blick dem zu Ende gegangenen Jahrhundert und hier im Besonderen der Rolle, die Intellektuelle und Politiker in ihm gespielt haben. Von Katastrophen handelt sein gerade auf Deutsch erschienenes Buch, von vergebenen Chancen und von der Gefahr, dass wir "nicht nur nicht aus der Vergangenheit gelernt haben (was nicht besonders erstaunlich ist), wir sind überhaupt der festen Überzeugung, dass die Vergangenheit keine Lehren zu bieten hat" .

Dagegen schreibt er an. Reappraisals heißt das Buch im Original und nur im Untertitel Reflections on the Forgotten Twentieth Century. Die "Neueinschätzungen" , zwischen 1994 und 2006 verfasst, stehen im Vordergrund, eben damit nichts vergessen werde.

Liberalsein nach den Neo-Cons

Sie gelten zunächst, in zwei gewichtigen Abschnitten, den "Zeugen der Finsternis" und "engagierten Intellektuellen" , die die Sicht auf Zeitgeschehnisse geprägt haben. Die Einsichten von einigen der Porträtierten - etwa Primo Levi - waren wenig willkommen. Manche genossen kurze Erfolge und wurden bald danach "unmodern" (Arthur Koestler, Manès Sperber). Andere, wie Camus, wurden diffamiert oder, schlimmer noch, ignoriert. (Albert Camus - Der beste Mann in Frankreich ist einer der ältesten hier versammelten Essays; es mag eine späte Genugtuung für Judt sein, dass Camus, nicht nur aus jubilarischen Gründen, wiederentdeckt und unter den französischen Linken rehabilitiert wurde.)

Die späteren Erfahrungen in dem "kurzen Jahrhundert" bis 1989 behandelt Judt ebenfalls. Teils führt er sie durch handelnde Personen vor - Kennedy und Chruschtschow während der Kuba-Krise, der nach seiner Ansicht überschätzte Kissinger oder die Akteure der außerhalb Amerikas wenig bekannten Alger-Hiss-Affäre um kommunistische Spione. Teils porträtiert er nationale Entwicklungen als Brenngläser von Konflikten - Belgien oder Rumänien sind hier zu nennen und natürlich Israel, "das Land, das nicht erwachsen werden will" .

Schließlich widmet er sich der ihn besonders berührenden Frage, wie es, nach den Thatcher-, Reagan- und Bush-Jahren, nach den Folgen des Neoliberalismus und der Neo-Cons, mit dem liberalen Projekt weitergehen soll.

Das nichtkonservative Amerika des New Deal und der progressiven Bewegungen ist Judt zufolge einen "merkwürdigen Tod" gestorben. Seine Verfallserscheinungen zeichnet der Zeithistoriker mit einem Sinn für Details nach, vor dem die üblichen Links-rechts-Schablonen verblassen. Er führt vor, wie ehemals differenzierende amerikanische Intellektuelle über neue klare Feindbilder wie den "Islamofaschismus" froh sind - und wie sich darin häufig ihre Kader-Vergangenheit spiegelt.

Hier nicht selbst einem vereinfachenden Schema zu verfallen heißt auch, die Falle "Europa vs. Amerika" zu vermeiden. Den Anspruch, dass der Intellektuelle einen "universalistischen Blick" zu behalten habe, stellt Judt auch an sich selbst. Gerade deswegen zieht er in dem erstmals 2006 veröffentlichten Kapitel eine düstere Bilanz: Die Liberalen seien "gewissermaßen die Kanarienvögel im Bergwerk der modernen Demokratie" . Sie sollten sich keine Selbstzensur auferlegen, sondern unbequeme Fragen stellen.

Mit seinem neuesten Buch, noch nicht ins Deutsche übersetzt, bohrt Judt fragend weiter. Der mittlerweile von einer tödlichen Krankheit gezeichnete Historiker übersetzt "liberal" grob ins Europäische zurück, als "sozialdemokratisch" , und fragt, was aus diesem Erbe geworden ist.

"Ill fares the land" , schlecht geht es dem Land, das seine Errungenschaften aus mehr als einem Jahrhundert Entwicklung Richtung Wohlfahrtsstaat so leichtfertig über Bord wirft - wie vielfach geschehen in den letzten Jahrzehnten. Die lauter werdende Kritik am deregulierten Markt, die Rückbesinnung auf Keynes seien gute Zeichen, aber noch lange keine radikale Umkehr. Dass sie geschehen möge, in den Gesetzen wie in den Köpfen, in jedem Land auf seine Art, dafür plädiert der Universalist Tony Judt. (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 15./16. 5. 2010)