Architektur im sogenannten "Wohn Raum Alpen" muss nicht unbedingt einheitsfolkloristischer Kitsch sein.

Foto: Hartmut Nägele

Es ist schon merkwürdig. Da gibt es in Europa zwei landschaftlich hinreißende, ja geradezu überwältigende geologische wie klimatische Unikate, doch nur eines davon wird gewohnheitsmäßig als kulturelle Einheit eingestuft: das Mittelmeer. Die Alpen hingegen, der andere große Kulturraum, bleiben in der öffentlichen Diskussion über ein Europa der Regionen erstaunlich zerklüftet. So zerklüftet wie das Bergmassiv selber. So sperrig wie die transnationale Kommunikation von Tal zu Tal. So uneinheitlich wie ihre Architektur.

Umso mutiger, dass nun eine europäische Wanderausstellung, die ihren Ausgang in Meran nimmt, das scheinbar wahnwitzig anmutende Unterfangen angeht, Wohnen in den Alpen vorzuführen. Und zwar anhand von gerade einmal 37 ausgesuchten und innerhalb der letzten zehn Jahre realisierten Bauten, genau genommen von Wohnhäusern mit mindestens fünf Wohneinheiten.

Das bedeutet: Reine Schau- und Unterhaltungsbauten bleiben da ebenso ausgeschlossen wie das Bauen für Museums-, Wellness- und diverse Sprungschanzenzwecke. Eine 16-köpfige Kommission traf aus 200 Projekten eine Auswahl, die die Alpen vom einen Ende zum anderen repräsentieren - von Slowenien und seiner jungen Architekturszene bis fast nach Monaco.

Gestreift wird dabei auch die Nordseite, die architektonisch am wenigsten ergiebig ist. Der Grund ist einfach: Zum Innovationen unterbindenden bürokratischen Regulierungsfuror gesellt sich in Bayern noch eine stilistische monothematische Steifigkeit. Gebaut werden soll und darf - und eine Gemeinde wie Mittenwald führt das in ihrer Satzung exemplarisch vor - nur das, was sich nahtlos in die Einheitsfolklore fügt. Holzbalkone und mit Rotblühern bestückte Blumenkübel inklusive.

Muss man da überhaupt noch erwähnen, dass diese praktizierte Einfallslosigkeit und Mittelmäßigkeit vom Epizentrum München ausgeht, wo die Architektur immer einfallsloser wird und zunehmend dem ökonomischen Druck verfällt? Im baulich ähnlich gelagerten Fürstentum Liechtenstein kommentiert der Architekturprofessor Hansjörg Hilti den planerischen Status quo mit trockenem Humor: "Die Siedlungstätigkeit Liechtensteins wird zurzeit von der Verkehrsplanung dominiert" , sagt er grimmig, "und eine Neuausrichtung auf eine nachhaltige städtebauliche Zukunft ist noch nicht absehbar."

Ganz Ähnliches hatte der Wiener Architekturschreiber Friedrich Achleitner schon vor mehr als anderthalb Dekaden benannt. Auf einem Vortrag 1994 in Innsbruck sprach er von der "Falle der formalen Interpretation" , in die regionalistische Architektur so häufig und so gern hineintappe. Was wiederum häufig zu Stagnation und Verflachung führe. Wobei: Auf Tirol traf das kurz darauf nur noch zu einem Bruchteil zu. In Vorarlberg herrschten ohnehin schon unübersehbar andere Sitten. Und Südtirol erfasste wenig später ein ungebrochener architektonischer Elan, der in der ganzen Region, vor allem in Bozen, hochwertige Spuren hinterlassen hat.

Die Alpen reagieren schneller

Dabei könnten gerade im Alpenraum beispielhafte Gebäude jenseits von Pseudohistorismus und Co entstehen. Der Fokus ist kleiner und konzentrierter als in den Global Cities. Architekten sind in der Lage, auf aktuelle Probleme rasch und unmittelbar zu reagieren und Antworten auf diverse Fragestellungen heutiger Zeit zu geben: auf den demografischen Wandel, auf die grassierende Zersiedlung, auf die Zersplitterung der Landschaft.

Architekten im Alpenland können rascher über die Umwidmung alter Bausubstanz und über den Umgang mit ehemaligen Industriestandorten nachdenken. Sie können rascher Lösungen für eine neue, originelle und realisierbare Definition umbauten Raumes finden. Und sie können rascher reale Nachhaltigkeit ausprobieren und energie- und ressourcenschonendes Bauen praktizieren. Die Schau "Wohn Raum Alpen" , die gestern, Freitag, eröffnet wurde und die noch bis 12. September in Meran zu sehen ist, führt das so simpel wie beispielhaft vor: Die hölzernen Boxen, in denen die Exponate von Ort zu Ort transportiert werden, dienen zugleich als Podeste.

"Welcher Abstand dem anderen gegenüber muss gewahrt werden, um eine Gemeinschaft ohne Entfremdung zu bilden?" , fragte Roland Barthes vor 30 Jahren. Eine Antwort zu geben ist schwierig. Dietmar Eberle, Vorarlberger Architekt, stellt fest, dass immer wieder vom sogenannten Alpenraum die Rede sei. "Doch wenn man den Begriff etwas genauer betrachtet" , so Eberle, "wird man feststellen, dass es einen homogenen und zusammenhängenden Alpenraum gar nicht gibt. Denn anders, als wir das heute erleben, waren die Berge in der Geschichte der Menschheit nicht etwas Verbindendes, sondern etwas zutiefst Trennendes."

Doch gibt es tatsächlich mehr Trennendes als Verbindendes zwischen dem sensiblen Wiederaufbau des Dorfes Gondo im Schweizer Kanton Wallis und der Freizeitsiedlung Avoriaz in den französischen Alpen? Oder etwa zwischen einer exklusiven Seniorenresidenz am Ammersee und einem innovativen Low-Budget-Haus für Migranten?

Der alpine Planungspluralismus, der thematisch ans Diffuse grenzt, ist für den aktuellen Wohnungsbau durchaus bezeichnend. Die Palette reicht vom holzverschalten Pensionistenheim (Ried-Brig in der Schweiz) bis zur edlen, lichtdurchfluteten Terrassenwohnanlage mit deutlichen Anklängen an amerikanischen Modernismus (Lans/Tirol); vom Mehrfamilienhaus, dessen Kubatur die lokale Bautypologie aufnimmt und diese leicht variiert (Teufen/Schweiz) bis zur Wohnriegelanlage Tetris mit ihrer verspielten Fassadengestaltung im slowenischen Ljubljana; von der wuchtig-monolithischen Wohnanlage Kaiserau in Bozen bis zu Édouard François' Apartmentplanung "Skin Wall" mit ihrer innovativen Fassade, einer wasserdichten, recycelbaren und bepflanzten Plane, und der streng rhythmisierten Reihenhauskette der Zona A21 San Polo in Brescia: Sie lässt die Tradition des italienischen Rationalismus ungebrochen neu aufleben. Gerade die nirgendwo begründete Projektauswürfelung zeigt paradoxerweise Querverbindungen auf. Ist Pablo Horváths Wohnturm mit seiner weißen Steinfassade in St. Moritz-Bad nicht auch in Dornbirn vorstellbar? Könnte das langgezogene, sich an den Berghang oberhalb Davos schmiegende Mehrfamilienhaus Stockenwald (Architekten: Zindel Brönnimann Ferrario, Zürich) so nicht auch in Bruneck stehen?

Wo aber bleibt das Innovative? Kann es neue gestalterische Elemente zwischen Bauherrenwünschen, Bauträgervorgaben und starren Wohnungswirtschaftsrichtlinien geben? Durchaus. So schufen bhend.klammer architekten aus Zürich in ihrem in fünf Häuser unterteilten Walliser Alters- und Pflegeheim Santa Rita mit einer zentralen Gasse eine Zone des Austausches. Einen Anklang an Regionales. An alpine Basisarchitektur. Eine Gasse, die trennt. Und verbindet.

(Alexander Kluy, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 15./16.05.2010)