Kerzen spenden Licht in dem großen Bundesheerzelt, das die Besetzer hier am Augartenspitz aufgestellt haben und in dem an diesem Abend zwei Handvoll Menschen sitzen, Bier trinken und diskutieren. Dazwischen trägt einer seinen nassen Schlafsack aus einem der umstehenden kleineren Zelte herein. Es hat geregnet. Auch wenn der Augarten-Streit vor zwei Monaten offiziell endete, als das Areal für den Bau eines Konzertsaals der Wiener Sängerknaben von privaten Sicherheitsfirmen und der Polizei geräumt wurde - sie sind immer noch hier.
Bezirk in SPÖ-Hand
Kaum ein Wiener Bezirk ist durch eine Bürgerinitiative in den letzten Jahren so hervorgestochen wie die Leopoldstadt. "Die politischen Zustände in Wien sind hier im Kleinen komprimiert", sagt Ronald, einer der Aktivisten. Die Leopoldstadt ist in politischer Hinsicht nicht untypisch für einen inneren Wiener Bezirk: mit Gerhard Kubik ein Bezirksvorsteher von der SPÖ, die diesen Posten schon seit 1945 innehat und bis in die 1990er Jahre bei Wahlen die absolute Mehrheit erreichte. Bei der letzten Wahl 2005 holten die Grünen in der Leopoldstadt erstmals den zweiten Platz und stellen seither mit Adi Hasch einen Bezirksvorsteher-Stellvertreter. Den dritten Platz hält die ÖVP, knapp dahinter die FPÖ. Das einzig Außergewöhnliche: Die KPÖ hält hier ein Mandat. Das ist sonst nur im dritten Bezirk Landstraße so.
Wurstelprater und Mazzesinsel
Die Leopoldstadt hat unter den Wiener Gemeindebezirken mit 96.000 die viertmeisten Einwohner. Bei Wienern bekannt ist sie für ihre Grünflächen, neben dem Augarten mit seiner historischen Gartenanlage sind der Wurstelprater und der grüne Prater, der den größten Teil des Bezirks einnimmt, ein beliebtes Ausflugsziel. Auch die jüdische Geschichte ist präsent: Im Jahr 1624 vertrieb Kaiser Ferdinand II. die Juden aus der (inneren) Stadt und wies ihnen den Unteren Werd, das heutige Karmeliterviertel als Wohngebiet zu. Später verwies man sie auch von hier. Heute leben circa 40 Prozent aller knapp 7000 Wiener Juden im Bezirk, es gibt mehr als zehn Synagogen und etliche jüdische Geschäfte - ein Grund, warum man die Leopoldstadt auch "Mazzesinsel" nennt. Zuzug hatte der Bezirk in den letzten Jahren aber auch verstärkt durch junge Menschen rund um Donaukanal, Augarten und Karmelitermarkt.
Aufwertung und Bauboom
Bekannt ist der zweite Bezirk aber auch für "Problemviertel" mit schlecht gehenden kleinen Geschäften, mangelnder Infrastruktur und mit 27,7 Prozent eher hohem Ausländeranteil (Wien: 20,1 Prozent). Im Stuwerviertel oder beim Messegelände im Prater versucht die Bezirksverwaltung die Straßenprostitution zu bekämpfen. Wienweit ist die Leopoldstadt der Bezirk mit der fünfthöchsten Kriminalitätsrate. Mit der Verlängerung der U2 über Taborstraße, Prater und Messegelände quer durch den zweiten Bezirk hat die Stadt einen Schritt in Richtung einer Aufwertung des Viertels getan. Zwischen Messegelände und Prater wird bis 2012 ein neuer Campus der Wirtschaftsuniversität gebaut. So soll eine Gegend, die bisher als Straßenstrich bekannt war, zu einem "urbanem Stadtteilzentrum mit multifunktionalem Nutzungskonzept" werden. Das, was in der Leopoldstadt passiert, wird von Experten auch "Gentrification" genannt.
Augartenspitz als Politikum
Dass das Thema Augartenspitz für die Wahlen im Herbst in der Leopoldstadt von Bedeutung ist, wird klar, wenn man sich die Parteireaktionen auf die Bürgerinitiative ansieht. Während die Grünen sich auf die Seite der Augartenspitz-Besetzer schlugen, stand die SPÖ zu ihrer Entscheidung, die Grünfläche für den Bebau des Sängerknaben-Konzertsaals freizugeben. Norbert Walter, geschäftsführender Bezirksparteiobmann der ÖVP Leopoldstadt richtete einen "Appell zur Deeskalation" an die Besetzer. Dennoch begrüßten sowohl ÖVP und FPÖ im März die Räumung als "Durchsetzung des Rechtsstaates und Beendigung des Chaos". Der Leopoldstädter FPÖ-Obmann Wolfgang Seidl mokierte sich zudem darüber, dass das grüne Engagement nur "ein fixes Bezirksratsmandat" garantieren solle. Sollte die Strategie tatsächlich aufgehen, könnten die Grünen der SPÖ bei den Ergebnissen der Wienwahlen Stimmen streitig machen. Immerhin kamen die Grünen bei der Europawahl vergangenes Jahr mit 22,5 Prozent der Stimmen der SPÖ (29,4 Prozent) bereits näher. (ask, derStandard.at, 4.5.2010)