Anne Jurens "Pièce Sans Paroles"

Foto: Roland Rauschmeier

Wien - Sie gehörte dem legendären Judson Dance Theater an, das im New York der frühen Sixties gegen die veraltete Tanzmoderne rebellierte: Obwohl Deborah Hays Name nicht so bekannt ist wie der von Stars wie Trisha Brown, Steve Paxton, Lucinda Childs oder Yvonne Rainer, gilt ihr Beitrag zur postmodernen Choreografie als bemerkenswert. Das Tanzquartier Wien zeigte nun mit No Time to Fly die jüngste Soloarbeit der heute in Austin im US-amerikanischen Bundesstaat Texas lebenden Künstlerin.

Die aus Frankreich stammende österreichische Choreografin Anne Juren ist so etwas wie eine künstlerische Ur-Ur-Enkelin der frühen Postmodernen, die ihrer Kunstform vor knapp fünfzig Jahren gänzlich neue Möglichkeiten eröffnet hatten. Und nun ist die Reihe offenbar auch an Juren, dem zeitgenössischen Tanz weitere Dimensionen zu erschließen. In ihrem Pièce Sans Paroles, das sie gemeinsam mit ihrer New Yorker Kollegin DD Dorvillier und der Dramaturgin Annie Dorsen entwickelt und soeben im Brut-Theater uraufgeführt hat, ist ihr so etwas jedenfalls gelungen. Das Stück ohne Worte löst die Grenze zwischen dem Tanzen und der Schauspielerei auf.

Dafür löschte Juren allen Text aus einem bereits existierenden Drama. Welches, das wird den Zuschauern vorenthalten. Schade, denn es ist nicht uninteressant zu wissen, dass es sich um The Two-Character Play von Tennessee Williams aus dem Jahr 1973 handelt. Übrigblieb von dem Stück, und das wird auch ohne große Information verstehbar, dessen Bewegungsprogramm, dem die Darsteller, ein Mann und eine Frau, folgen. Die zwei von Juren und Dorvillier wunderbar umgesetzten Figuren haben mit der Sprache auch ihre Namen - Felice und Clare - verloren. Ihr Verhalten erscheint steif und künstlich, ein Schrei, ein Lachen, ein Revolver poltert zu Boden. Stumm wie Fischmäuler klappen die Münder der beiden auf und zu.

Gegenteil von "Tanztheater"

So wird das Eigenleben der Bewegungen der Akteure erfahrbar. Dieser choreografierte "Subtext" koppelt sich von dem Drama ab und wird zu einer eigenen Form. Er verwandelt sich aber nicht etwa in eine Pantomime in der Art von Samuel Becketts Ende der 1950er-Jahre entstandenem Acte sans paroles, sondern in einen Tanz, der ohne Tanzbewegungen im herkömmlichen Sinn auskommt. Denn bei Pièce Sans Paroles gelten die schauspielerischen Bewegungen des Theaters als tänzerische Bewegungen.

Damit wird dieses Stück zum Gegenteil von "Tanztheater" etwa im Sinn einer Pina Bausch, bei dem traditionell Tanzbewegungen in Theatersettings eingeführt wurden. Ausgesprochen konsequent ist dann auch die Bezugnahme auf Williams' formal einst riskant gewesenes Two-Character Play, mit dem sich der Autor von seinem früheren Naturalismus ablöste und an Beckett annäherte. Diese Ablösung führen Juren, Dorvillier und Dorsen weiter, indem sie das Originalstück entführen und als Choreografie noch einmal radikalisiert, somit ganz neu entstehen lassen.

Ein solcher Coup braucht im Tanz immer noch Mut - und eine Entdeckungsfreude, wie sie auch für die Künstler des Judson Dance Theater typisch war. In diesem Geist tritt heute auch die 69-jährige Deborah Hay nach einem halben Jahrhundert künstlerischer Forschung noch auf.

In No Time to Fly gibt sie sich als eine Charakterfigur mit schwarzem Mützchen, Hochwasserhose und zierlichen Schuhen aus. Als Narr, der sich seinen Weg durch seinen Körper und mit diesem auf der Bühne bewegt. Dabei stellt sie sich vor, so schreibt sie in einer genauen, kommentierten "Partitur", sie sei eine Shopping-Mall, ein heiliger Ort und dann ein Totempfahl. Fragmente eines Songs ohne Worte und eines Indianertanzes tauchen auf, und sie sagt nur einen einzigen Satz: "Strictly speaking, I believe I've never been anywhere." Verständlich. Denn der Narr ist immer an einem Nichtort. Also in der Utopie. (Helmut Ploebst / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10.5.2010)