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Allein in ihrer Wohnung hält sie die Stille nicht aus - Entweder sie hat Fernseher oder Radio an, telefoniert mit jemandem oder sie putzt und räumt die ohnehin saubere Wohnung auf

Foto: AP Photo/Roberto Pfeil

"Du wirst doch diese Frau nicht treffen, oder?" Die Stimme meiner Mutter klingt sachlich. Am Anfang und am Ende eines Satzes jedoch franst sie aus. Sie kommt schwer in Gang, schält sich mühsam heraus aus ihrem Unwillen, überhaupt etwas zu sagen. Das Haus zu verlassen, das sie sich eingerichtet hat. Es ist ein gewissermaßen inwendiges Haus, das nicht aus Holz oder Ziegelsteinen besteht, sondern aus Urteilen, die sie sich über dieses oder jenes gemacht hat. In ihm fühlt sie sich sicher wie ein anderer Mensch in einem Gebäude aus Stein.

"Das bringt doch nichts. Dir nicht, und ihr auch nicht." Es ist vierzehn Uhr. Vereinzelte, in die Länge gezogene Vokale und ein theatralisches Näseln lassen mich vermuten, dass meine Mutter bereits das zweite oder dritte Glas Prosecco getrunken oder es sich gegönnt hat, wie sie es nennt. So seltsam es klingt: Die Tatsache, dass es sich dabei um eine - wie ich weiß - billige Marke handelt, die sie im fünfzehn Minuten entfernten Supermarkt kauft, macht es für mich schlimmer. Wenn sie ihren Kummer mit etwas ertränken würde, das schmeckt, das dem Gaumen, ja, vielleicht sogar dem diffusen Etwas namens Seele wohltut, könnte ich der Sache etwas Positives abgewinnen. Stattdessen spült sie ihn mit etwas Süßlichem hinunter, das zu wenig Kohlensäure hat und schon abgestanden schmeckt, sobald sie die Flasche entkorkt und sich ein Glas davon eingeschenkt hat.

Wenn sie mir etwas anbietet oder sich selbst nachgießt, verziehe ich unwillkürlich den Mund. Es ist noch nicht lange her, dass ich selbst versucht habe, meine Probleme mit Alkohol hinunterzuspülen. Selbstverständlich ist es mir nicht gelungen, höchstens vorübergehend, für die Dauer von ein paar Stunden. Probleme stellen eine zähe Materie dar, die sich nicht in Alkohol auflösen lässt. Die Beigabe von Alkohol erzeugt vielmehr neue Probleme, ohne dass die alten damit aus der Welt geschafft wären.

Solche Überlegungen gehen im Fall meiner Mutter jedoch zu weit. Sie ist Ende fünfzig und gewiss nicht auf dem Weg zur Alkoholikerin. Sie ist lediglich vereinsamt. Der eine oder andere Prosecco sowie eine bestimmte Anzahl an Zigaretten pro Tag - mal eine halbe, mal eine ganze Schachtel - umspülen diese Einsamkeit wie Wasser einen Stein. Es ist keine stolze Einsamkeit, auch keine tragische. Sie ist weder selbstgewollt, noch von einem übel meinenden Schicksal eingefädelt. Sie ist ihr einfach passiert, was im Grunde schlimmer ist, weil die Banalität des Vorgangs, der sich auf abertausende andere Menschen ihres Alters übertragen lässt, dem eigenen Leben eine größere Bedeutung versagt, es klein macht vor einem selbst. Diesem Schrumpfungsprozess müsste man sich entgegenstemmen, am besten wohl mit Liebe und Leidenschaft. Eine Art Mobilmachung menschlicher Regungen, die allesamt von einem selbst weg zu jemand anderem hinführen. Wem aber - wie meiner Mutter - ein solches Gegenüber die größte Utopie bedeutet, so groß, dass es keinen Schmerz mehr bereitet, sie nicht zu erreichen, der betreibt einen gewissen Aufwand damit, die bestehenden Verhältnisse zu verwalten, sie - im Fall meiner Mutter - in einen Nebel aus Pflanzen- und Tierliebe, Fernsehen, Prosecco und Zigaretten zu hüllen, um in diesem Nebel für eine unbestimmte Zeit verlorenzugehen.

"Du und diese Frau, ihr habt doch in Wahrheit gar nichts miteinander gemein." Die allergrößte Bewegung - der Sturm im Wasserglas - stellt in einem solchen Leben die eigene Vergangenheit dar. (Falls das nicht ohnehin für alle Menschen gilt, und unter den Bedingungen, wie meine Mutter sie sich geschaffen hat, lediglich deutlicher hervortritt.) Wenn ich mit meiner Mutter telefoniere, lädt sie mich im Laufe des Gesprächs unausgesprochen dazu ein, an ihr Leben heranzutreten wie an einen gedeckten Tisch. Sie wünscht sich, ich würde mir die Geschichte ihres Lebens einverleiben wie eine Speise und in der gleichen Weise Geschmack daran finden wie sie selbst. Wenn wir einander auf der cremefarbenen Ledercouch unter den abgeschrägten, holzvertäfelten Fenstern ihrer Dachterrassenwohnung gegenübersitzen, über die Jahre begleitet und unterbrochen vom Rezitativ der immergleichen Phrase - Mama, du rauchst zu viel! -, fährt sie sich wie nebenbei durchs Haar, bleibt ihr Blick scheinbar absichtslos am Fernseher, auf den Blumen am Balkon oder der Obstschale am Esstisch hängen.

Trotzdem oder gerade deshalb spüre ich, wie angespannt sie ist, wie sehr sie darauf lauert, an welcher Stelle ihrer Litanei - warum ihr Leben so verlaufen ist, wie es verlaufen ist - ich ihren Erzählfluss unterbrechen, ihr ins Wort fallen werde, um ein Ereignis aus ihrem Leben in einem anderen Licht zu sehen, völlig andere Konsequenzen daraus zu ziehen. Was meine Mutter zu der Bemerkung veranlasst, ich hätte leicht reden, ich hätte ja nicht in ihrer Haut gesteckt. Dagegen lässt sich schwer etwas sagen - auch wenn es natürlich das klassische Totschlagargument dafür ist, um sich vor jeder Einmischung von außen abzuschotten, gleich, wie viel man selbst über sich weiß oder wissen will. Meine Mutter fürchtet indes nicht so sehr, dass ich ihre Vergangenheit umschreiben könnte, sondern ihre Gegenwart. Schon immer ist es mir ein Anliegen gewesen, ihr Leben der Beugehaft der ersten zwanzig Jahre zu entreißen - anfangs um meinet-, im Lauf der Zeit jedoch um ihretwillen. Aber sie hält an ihnen fest wie an einem alten, schäbigen Kuscheltier. Anstatt es zu entsorgen, hütet sie es wie einen Schatz, dessen Besitz einen nicht reich, geschweige denn glücklich macht, aber der dennoch ihrem Leben einen unverwechselbaren Glanz verleiht - wenn auch einen düsteren.

Als ginge ich noch zur Schule

Was bedeutete diese Düsternis für mich? Dass ich an das Leben meiner Mutter zwar herantreten, es mir gemeinsam mit ihr einverleiben, jedoch nie ganz darin eintauchen konnte oder wollte, obwohl ich ihm doch entsprang, Fleisch von ihrem Fleisch. (Ich weiß, sie wäre empört über diese Zeilen, sie, die - wie sie sagt - doch jeden Tag an mich denkt, ob es mir gutgeht, ob ich es schaffe. Ich weiß, dass es so ist. Und dennoch liefert das verwendete Verb - denken - einen verräterischen Hinweis auf das unglückliche Ineinanderfallen von großer Nähe und großer Distanz, der für unseren Umgang seit jeher prägend war.)

"Man hört ja immer wieder von solchen Menschen, die sich eines Tages auf die Suche nach ihrem Vater, ihrer Mutter oder irgendwelchen anderen Verwandten machen. Mir ist das schleierhaft. Ich meine, wenn man das als Kind macht, das kann ich noch verstehen. Aber als erwachsener Mensch. Das ändert gar nichts mehr. Weil man sein Leben schon gelebt hat. Man hat nicht mehr die Unbekümmertheit der Jugend. Man kann sich die Dinge nicht mehr schönreden. Geschweige denn, sie ungeschehen machen. Wer glaubt, dass sich die Dinge für ihn zum Besseren wenden oder auch nur einigermaßen befriedigende Antworten auf seine Fragen bekommt, nur weil er plötzlich mit fünfunddreißig, vierzig Jahren seinem Erzeuger gegenübersteht, ist ein Narr."

Die Worte, die sie mit einer vom Nikotin aufgerauten Stimme spricht, lassen mich an Metall denken. Eisenware, die auf einem Schrottplatz vor sich hinrostet. Ich stelle mir ihr Gesicht dabei vor: die hochgezogenen Augenbrauen; die am vorderen Ende des Höckers breite Nase in dem an sich kleinen, zarten, jedoch nicht spitzen Gesicht, das, wie der ganze Körper, der Tatsache Tribut zollen muss, dass sie sich in jungen Jahren hemmungslos dem Sonnenbaden hingab. Ihr leicht hochmütiger, von ihrer im Alter schwindenden Gefallsucht abgemilderter Gesichtsausdruck, der irritiert, da - wenn man genau hinsieht - in seinem Zentrum ein schüchternes, verletztes Paar graublauer Mädchenaugen funkelt. Ihr energisches, männliches Kinn, das davon kündet, wie sehr sie sich immer wieder dazu gezwungen fühlte, die darüberliegenden Zähne zusammenzubeißen und die traditionelle Rolle des Mannes zu übernehmen.

Der dünne Strich des Mundes, der sich nichtsdestoweniger zu einem herzlichen Lachen weiten kann - vor allem in Bezug auf Dinge, die sie nicht unmittelbar betreffen. Die Haare, die sie - unaufhaltsam auf die sechzig zugehend - auf meinen Ratschlag hin nicht mehr grellblond färben lässt, sondern in einem blasseren Ton, dem das Herausfordernde der jahrzehntelang aufgetragenen Tönung fehlt. Fast scheint es, als habe dieser Wechsel der Farbe eine Veränderung im Wesen meiner Mutter mit sich gebracht: Sie ist weicher, verbindlicher und damit zugänglicher - nicht zuletzt, was die Meinungen anderer Menschen betrifft. Während sie mit dieser Altersschwäche (so zumindest empfindet sie es) zu kämpfen hat, versuche ich ihr einerseits zu vermitteln, dass diese vermeintliche Schwäche sie in meinen Augen in Wahrheit stärker erscheinen lässt, da sie nicht mehr den alleinerziehenden Herrn im Haus geben muss, der ständig mit etwas beschäftigt ist, sich selbst - und dadurch auch den anderen - kaum einmal eine Pause gönnt.

Andererseits verlieh ihr diese Männlichkeit - gerade aufgrund ihres zierlichen Körpers, ihrer blonden Mähne, ihrer lackierten Fingernägel - eine markante Kontur. Der Preis dafür war der Verlust vieler gemeinhin als weiblich angesehener Eigenschaften, für die sie selbst oft nur Spott übrig hatte. Die Rolle verhalf ihr zu einer hektischen, nur unter großem Druck aufrechterhaltenen Sicherheit. Ihr Verlust befreit sie von diesem Druck, lässt sie entspannter, transparenter erscheinen. Gleichzeitig ist - spätestens, seit sie von ihrer Firma in die Frühpension komplimentiert wurde - der Mangel an Sicherheit, an Regeln, die den Alltag formen, so groß, dass ich manchmal das Gefühl habe, ihr Wesen oder das, was sie ein Leben lang ausgemacht hat, fließt nach allen Seiten hin davon. Vielleicht würde ich in ihrer Situation um diese Zeit ja auch zwei oder drei Prosecco getrunken haben, wenn ich mit meinem aufreizend gelassenen, besserwisserischen Sohn telefoniere.

"Also, was machst Du jetzt? Triffst Du Dich jetzt mit dieser Person oder nicht?" Es kann sein, dass sie während des Gesprächs an ihren Blumen hantiert. Ein verdorrtes Blatt von einem Stiel zupft. Oder das in Schichten in- und übereinander wuchernde Geflecht ihrer Farngewächse vorsichtig entwirrt und mit dem Wasser aus dem Zerstäuber benetzt. Sie darf sich dabei ein bisschen wie Gott fühlen, der es auf ein Waldstück regnen lässt.

"Halbschwester!" Sie betont die zweite Hälfte des Wortes so, dass es abfällig klingt. "Was für eine Schwester, bitte sehr? Jedes Mädchen, mit dem du gut befreundet bist, hat mehr Recht, sich als deine Schwester zu bezeichnen als diese Fremde." Ganz abgesehen davon, dass diese Behauptung absurd ist: Meine Mutter nennt meine Freundinnen und weiblichen Bekannten immer noch Mädchen, auch wenn ich längst nicht mehr achtzehn bin, sondern doppelt so alt und die vermeintlichen Mädchen etwa in meinem Alter sind oder ein paar Jahre jünger. Lerne ich jemanden kennen, fragt sie mich immer, wann ich sie denn einmal mit nach Hause bringe - als ginge ich noch zur Schule und bewohnte mein Kinderzimmer, das sie inzwischen zu ihrem Schlafzimmer umfunktioniert hat. Da sie schon seit Jahren keinen festen Freund mehr hat und sich den Männern mit zunehmendem Alter noch mehr entzieht als früher, wirkt es wie ein Relikt aus vergangenen Tagen, erinnert an Versprechen, die letztlich nicht erfüllt wurden. Ich würde mir an ihrer Stelle in diesem Bett einsam vorkommen, sie braucht es vielleicht als Bestätigung dafür, dass es nicht immer so war, wie es nun ist.

"Ich weiß gar nicht, worüber du dich so aufregst", sage ich zu ihr. "Nie hat die Fremde, wie du sie nennst, sich als meine Schwester bezeichnet, noch mich als ihren Bruder. Sie wollte ursprünglich nur wissen, ob die Möglichkeit besteht, dass wir denselben Vater haben. Wenn ja, wäre ich eben ihr Halbbruder." "Was erzählst du mir da? Ich bin ja nicht blöd. Ich habe ja gelesen, was sie geschrieben hat."

Durch den Hörer spüre ich, wie ihre Lippen beim Sprechen schmaler werden, ihre Augen angriffslustig funkeln. In jedem Satz, den sie bildet, gibt es jetzt mindestens ein Wort, das von einem schlangenartigen Züngeln begleitet ist, sobald sie es ausspricht. "Du hast doch von der Existenz deiner Brüder auch erst mit vierzig erfahren. Gut, euer Verhältnis zueinander ist nicht einfach, aber zumindest in einem Fall bist du doch froh darüber, dass es so gekommen ist." Das sitzt.

"Du weißt, dass man mich nicht gefragt hat. Ob ich überhaupt Geschwister wollte, stand nie zur Diskussion. Um ehrlich zu sein: Besonders scharf war ich nicht darauf. Stefan stand eines Tages einfach vor meiner Tür. Er hatte ein strahlendes Lächeln, dazu einen Strauß Blumen in der Hand. Im ersten Moment habe ich ihn für einen besonders forschen Verehrer gehalten. Bis er auf einmal gesagt hat: Hallo, was ich dir jetzt sage, hört sich vielleicht verrückt an, aber glaub' mir, es ist wahr. Ich bin dein Bruder."

Von Stefan erfährt meine Mutter, dass sie zwei weitere Halbbrüder hat, Alois und Wolfgang. Sie ist die jüngste von vier Geschwistern, die alle denselben Vater, aber verschiedene Mütter haben und an verschiedenen Orten aufgewachsen sind, ohne voneinander gewusst zu haben. Meiner Mutter ist als Einziger das - was den Vater betrifft - zuweilen zweifelhafte Glück zuteilgeworden, bei ihren leiblichen Eltern aufzuwachsen. Die anderen sind - da ungewollt, unehelich und in ärmste Verhältnisse hineingeboren - zur Adoption freigegeben oder bei Pflegefamilien groß geworden.

Was nützt dir schon ein Pelz?

Zu Beginn war meine Mutter von Stefan beeindruckt gewesen. Sein Schwung, der Optimismus, den er an den Tag legte, waren in Ansätzen auch an ihr erkennbar. Auch die Zähigkeit, wenn sie sich einmal in etwas verbissen hatte. Im Laufe der Jahre entwickelte meine Mutter eine engere Beziehung zu ihrem Bruder Alois. Er war im Unterschied zu den anderen zurückhaltend, sprach lieber ein Wort zu wenig als zu viel. Anfangs wusste meine Mutter mit Alois nichts anzufangen. Seine Einsilbigkeit wirkte abschreckend auf sie. Erst mit der Zeit nahm sie seine Qualitäten wahr: Besonnenheit, Bescheidenheit, Verlässlichkeit und eine Feinfühligkeit, die spürbar war, ohne dass Alois ihr Ausdruck verleihen musste. Sie machte es sich zur Angewohnheit, ihn einmal im Jahr zu besuchen. Anfangs blieb sie nur übers Wochenende, nun kann es vorkommen, dass sie eine Woche eingeplant hat, aber zwei Wochen bleibt. In dieser Zeit tut sie nicht viel mehr, als mit ihm im Wald spazieren zu gehen - seinem Wald, den er seit dreißig Jahren als Förster betreut. An seiner Seite kann sich meine Mutter der wohltuenden Wirkung von etwas hingeben, das sie ansonsten meidet: Stille. Nichts als Zwitschern, Rauschen, Atmen und das Knirschen des Waldbodens unter den Füßen. Allein in ihrer Wohnung hält sie die Stille nicht aus. Entweder sie hat Fernseher und Radio an, telefoniert mit jemandem oder sie putzt und räumt die ohnehin saubere und aufgeräumte Wohnung auf, dass über dem Badputzen, Staubsaugen und Staub von den Rücken der Bücher wedeln die Wohnung voller Arbeitsgeräusche ist, die sie kurzfristig vergessen lassen, dass ihre Arbeitskraft in der Firma nicht mehr benötigt wird und sie allein in der Wohnung ist.

Meine Mutter atmet durch. Es ist kein Seufzen, kein Laut, der der Tiefe des Brustkorbs oder dem Fundus weiblicher Geheimnisse entstammt. Es hört sich eher an, als ob eine Studentin in einem Seminarraum vor ihren Kommilitonen zur Erörterung einer privaten Einsicht ansetzt, von der sie hofft, sie würde ergiebig genug sein, um eine wissenschaftliche These aus ihr zu gewinnen.

"Dem Alois kann ich vertrauen. Blind. Wenn ich ihm etwas erzähle, dann ruhen meine Worte in ihm wie in einem Grab. Sagen tut er nichts dazu. Darum geht es auch gar nicht. Ich erwarte mir ja von ihm keine Hilfe. Wie sollte er mir auch helfen? Er hat ja nie über den Horizont seines Waldes hinausgesehen. Ein Hinterwäldler im wahrsten Sinn." Wir müssen beide lachen, es ist ein kostbarer Moment, im Humor zueinanderzufinden. "Ich finde es ja erstaunlich, dass du die Zeit hast, nach Berlin zu fahren. Ich dachte, wir waren uns einig, dass du dir endlich einen neuen Job suchst?"

Wann fährst du?

Ich arbeite im Augenblick in der Pressestelle der Architektenkammer und bin verantwortlich für PR. Ich besetze keine volle Stelle, nur eine halbe, und habe mit dem Verfertigen von Broschüren, dem Organisieren von Tagungen und dem Drehen von kleinen Filmen zu tun, neuerdings auch mit der Betreuung der Homepage. Die Chance, dass aus meiner halben Stelle einmal eine ganze wird, ist gering - noch dazu, da in den nächsten Jahren eher der Abbau von Stellen zur Diskussion steht. Der geringe Lohn und die fehlende Zukunftsperspektive lassen mich nach einer neuen Stelle suchen, einer Stelle noch dazu, die - wie meine Mutter findet - meinen Fähigkeiten mehr entspricht als der Pipifax, wie sie es nennt, mit dem ich derzeit beschäftigt bin. Wozu das Studium, meint sie, wenn ich mich mit einem Beruf bescheide, für den man garantiert keinen mit der Abschlussnote summa cum laude erworbenen Magistertitel braucht.

"Du solltest dich um deine Zukunft kümmern. Die Arbeit liegt heute nicht mehr auf der Straße wie noch zu meiner Zeit. Heute muss man froh sein, wenn man Arbeit hat. Ich verstehe bis heute nicht, warum du deine schöne Stelle an der Uni hingeschmissen hast. Andere würden sich die Finger nach so einer Stelle lecken." "Der Unibetrieb ist nichts für mich." "Und das ist dir erst nach ein paar Jahren klargeworden?" "Nein. Gespürt habe ich das lange vorher. Ich hab' mich aber nicht getraut, diesem Gefühl nachzugeben, aus Angst, was aus mir wird." "Zu Recht. Gefühle kannst du von mir aus mit irgendwelchen Mädchen ausleben. Aber im Berufsleben haben sie nichts verloren. Da zählt nur eins: oben oder unten, gewinnen oder verlieren." "Ach so? Wo würdest du dich denn da einordnen?"

Die Entfernung zwischen uns ist manchmal kaum größer als die Breite einer Rasierklinge, manchmal so groß, als wären wir nicht blutsverwandt, sondern befänden uns nur zufällig am selben Bahnsteig und warteten auf denselben Zug.

"Wann fährst du?" In ihrer Stimme herrscht kurz Eiszeit. "Um acht." "In der Früh?" "Ja." "Dann nimm dir eine warme Unterhose mit. Und dicke Socken. Der Frost hat Berlin fest im Griff, es soll in der Nacht minus zwanzig Grad haben. Noch mal zehn Grad kälter als bei uns." (Peter Truschner/DER STANDARD, Printausgabe, 8. Mai 2010)