Die jüngsten Abschiebungen abgewiesener Asylwerber haben die ehemalige ORF-Korrespondentin in Russland, Susanne Scholl, empört. Sie richtet einen offenen Brief an Bundeskanzler Werner Faymann und die Minister Maria Fekter und Michael Spindelegger:

Meine Großeltern konnten im Dezember 1939 gerade noch aus Nazi-Österreich nach Belgien entkommen. Willkommen waren sie dort nicht. Man forderte sie immer wieder auf, das Land zu verlassen und drohte ihnen mit Abschiebung - nach Nazi-Deutschland. Am Ende haben die Nazis sie in Belgien eingeholt - und ermordet.

Ich verdanke mein Leben der Tatsache, dass England meine Eltern nicht abgeschoben hat - und nicht von den Nazis eingenommen wurde.

Als Österreicherin und Mensch mit Gewissen frage ich Sie:

1. Wissen Sie nicht, dass die große Mehrheit jener, die heute in Österreich Zuflucht suchen, das tut, weil sie an Leib und Leben bedroht ist?

2. Wissen Sie nicht, was auf die Menschen, die jetzt Tag für Tag wie Kriminelle außer Landes gebracht werden, zukommt? Welches Schicksal die meisten dort erwartet, wohin sie von Österreich aus verfrachtet werden?

3. Wissen Sie nicht, wie viele jener, die jetzt plötzlich unbedingt abgeschoben werden müssen, seit Jahren hier leben und nur eben das wollen: in Ruhe und Sicherheit hier leben?

4. Glauben Sie nicht, dass schnelle und faire Asylverfahren die Lage wesentlich besser entspannen würden als willkürliche Abschiebungen?

5. Glauben Sie nicht, dass wirkliche Experten - also Menschen, die die Situation tatsächlich gut kennen - die Lage in den jeweiligen Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, beurteilen sollten und nicht desinteressierte, überforderte Beamte?

6. Glauben Sie nicht, dass eine Arbeitserlaubnis den Menschen eine Perspektive geben würde und auch verhindert, was Sie Sozialschmarotzertum nennen?

7. Glauben Sie nicht, dass zutiefst traumatisierte Menschen von ausgebildeten Psychologen und nicht von überforderten Polizisten einvernommen werden sollten?

8. Glauben Sie nicht, dass gerade Österreich eine besondere Verpflichtung hat, Menschen in Not zu helfen? (Dr. Susanne Scholl/DER STANDARD, Printausgabe, 8. Mai 2010)