Selbst nach der Verleihung des Nobelpreises 1966, den Nelly Sachs zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Joseph Agnon erhalten hatte, wussten die Medien nicht viel über ihr Werk zu berichten. Am 12. Mai 1970 starb sie im Alter von 78 Jahren in Stockholm.

Bild: Nobel Lectures

Sie schrieb an einem kleinen, runden Holztisch in einer vier Quadratmeter großen Küchenecke. Um ihre kränkelnde Mutter nicht zu wecken, arbeitete sie zeitweise ohne Licht. Dreißig Jahre verbrachte Nelly Sachs, die Berliner Dichterin und Nobelpreisträgerin jüdischer Abstammung, im schwedischen Exil, am 12. Mai 1970 starb sie im Alter von 78 Jahren in Stockholm.

Mich erstaunt immer wieder, wie wenig Aufmerksamkeit ihrem Werk zuteil wird. Zwei Jahre nach ihrem Tod, als Heinrich Böll den Nobelpreis für Literatur bekam, wurden in der deutschen Presse dessen Vorgänger Thomas Mann und Hermann Hesse genannt, von Nelly Sachs war schon damals nicht mehr die Rede. Obwohl Mann und Hesse die Staatsbürgerschaft ihres amerikanischen und schweizerischen Emigrationslandes angenommen hatten, blieben sie für die Öffentlichkeit der Bundesrepublik deutsche Schriftsteller. Nelly Sachs hingegen, de-ren Herkunft in den Nachkriegsjahren beim deutschen Publikum Schuldgefühle evozierte, dessen persönliches und literarisches Leben vom Holocaust geprägt war, schien nicht dazuzugehören. Die "deutsche Realitätsflucht" nach dem Zweiten Weltkrieg, wie sie Hannah Arendt in dem Aufsatz Besuch in Deutschland beschreibt, machte aus der deutschen Dichterin im schwedischen Exil eine jüdische, um sich vor der unmittelbaren politischen Verantwortung zu drücken.

Doch selbst nach der Verleihung des Nobelpreises 1966, den sie zusammen mit dem israelischen Schriftsteller Samuel Joseph Agnon erhalten hatte, wussten die Medien nicht viel über ihr Werk zu berichten; der Großteil der Pressestimmen reduzierte sich auf die Beschreibung ihres Äußeren.

Sachs ist in der großbürgerlichen Idylle des Berliner Tiergartenviertels aufgewachsen. Beide Elternteile stammten aus einer assimilierten, jüdischen Kaufmannsfamilie. In der Bibliothek standen die Bücher der großen deutschen Dichter und Denker.

Ihre frühen Texte waren weltfremd, von christlichen und mittelalterlichen Motiven geprägt, ohne historische Bezüge. Als Mädchen träumte sie davon, Tänzerin zu werden. Als sie mit fünfzehn Jahren Selma Lagerlöfs Gösta Berling Saga zum Geburtstag geschenkt bekam, schickte sie der schwedischen Autorin eigene Gedichte und schwärmerische Briefe. Dieser Kontakt sollte noch eine wichtige Rolle spielen: Lagerlöfs Brief trug mit dazu bei, dass Nelly Sachs mit ihrer Mutter in letzter Minute vor den Nazis nach Schweden flüchten konnte.

Eine unglückliche Liebe, die zu einem körperlichen Zusammenbruch führte, war Auslöser für ihr Schreiben. Über den Geliebten selbst, der als "toter Bräutigam" in ihre Gedichte einging, ist wenig bekannt. Sachs beschrieb ihn als einen nichtjüdischen Mann aus guter Familie, als Widerstandskämpfer, der vor ihren Augen gemartert und umgebracht worden sei.

Zum Zeitpunkt von Hitlers Machtergreifung war Nelly Sachs 42 Jahre alt. Sie hatte drei Jahre zuvor den Vater durch eine Krebserkrankung verloren und lebte mit ihrer Mutter vom verbliebenen Vermögen. Das künstlerische, intellektuelle Berlin der "Goldenen Zwanziger" war nahezu spurlos an ihr vorbeigegangen. Sachs blieb zurückgezogen, fand keinen literarischen Anschluss, obwohl sie kontinuierlich schrieb. Trotz ihrer zunehmenden Gefährdung blieb sie in Berlin und hoffte auf eine Besserung der politischen Lage. In dem Niemandsland zwischen der alten Identität, in der das eigentliche Jüdische vergessen oder in manchen Fällen sogar negativ besetzt war - man grenzte sich von den ärmlichen, orthodoxen Ostjuden ab und war darauf bedacht, den Normen des deutschen Bürgertums zu entsprechen -, und der von den Nazis aufoktroyierten Identität, in diesem Riss zwischen Nelly und Sara, entstand ihr Werk.

In den Wohnungen des Todes

Nachdem sie vom Tod ihres Geliebten gehört hatte, bedeutete ihr das Leben zunächst nichts mehr. Die Zuneigung zur Mutter ließ sie dennoch an Flucht denken, allerdings zu einem Zeitpunkt, wo eine Ausreise ohne Beziehungen nicht mehr möglich war. Nelly Sachs bat Selma Lagerlöf in einem Brief um Hilfe. Die Ankunft des Empfehlungsschreibens verzögerte sich, die Zeit wurde knapp. Mitte Mai 1940 erhielt Nelly Sachs den Gestellungsbefehl in ein Arbeitslager. Als sie in ihrer Verzweiflung bei der Schwedischen Botschaft vorsprach, erfuhr sie vom eingetroffenen Visum. Mit der Einreiseerlaubnis und dem Gestellungsbefehl eilte sie zur Gestapo, um das polizeiliche Führungszeugnis zur Auswanderung abzuholen. Der Gestapobeamte riet ihr, den Gestellungsbefehl zu vernichten, die Bahnkarten in Flugkarten umzutauschen, um sofort ausreisen zu können. Nelly Sachs und ihre Mutter landeten mit einer der letzten Maschinen am 16. Mai 1940 in Stockholm. Kurze Zeit später trat ein allgemeines Auswanderungsverbot in Kraft.

Bereits in den ersten Stockholmer Jahren übersetzte Sachs neben ihrer zeitweiligen Arbeit als Wäscherin schwedische Lyrik und forcierte aus der finanziellen Not heraus ihre eigenen Publikationen. Die Beschäftigung mit der fremden Sprache und Literatur, zu der ihr aufgrund der zunehmenden Pflegebedürftigkeit der Mutter wenig Zeit blieb, bewirkte eine radikale Umformung ihrer bisherigen Schreibweise. Sachs schulte ihren eigenen Stil an der lakonischen, jeder Gefühligkeit und Stimmung entbehrenden jüngeren schwedischen Lyrik und schuf mit den Gedichten In den Wohnungen des Todes, die im Winter 1943/44 entstanden, ihren ersten großen Lyrikband. "Es gibt und gab und ist mit jedem Atemzug in mir der Glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes als an eine Tätigkeit, wozu wir angetreten" , schrieb sie in einem Brief an Paul Celan.

Nach den lähmenden Schreckensjahren in Berlin fand sie in Schweden die Kraft, unter dem Eindruck der Nachrichten aus den Konzentrationslagern, das ursprünglich verschlüsselte und symbolgeladene Böse erstmals in direkten sprachlichen Bildern zu benennen. Während der erste Band 20.000 Mal verkauft wurde, geriet der Lyrikband Sternverdunklung schnell in Vergessenheit und wurde wie auch Paul Celans Sand in den Urnen eingestampft.

Nach dem Tod der Mutter im Februar 1950, zu der sie eine fast schon symbiotische Beziehung hatte, fiel sie in eine schwere Depression. "Meine Mutter ist gestorben. Mein Glück, meine Heimat, mein Alles." Ihre Aufopferung und Selbstlosigkeit täuschten sie über viele Ängste und Schuldgefühle hinweg, denen sie nun, nach dem Ende dieser ohne Abgrenzung verlaufenen Beziehung, schonungslos ausgesetzt war.

Mitte der 1950er-Jahre hatte Nelly Sachs noch immer keinen Verlag in der Bundesrepublik. Sie lebte nach wie vor in ungesicherten Verhältnissen und wurde, weil sie im ostdeutschen Aufbau-Verlag veröffentlicht hatte, in die Nähe des Kommunismus gerückt. Erst in den späten 50er-Jahren wurden Schriftsteller wie Peter Hamm, Alfred Andersch und Hans Magnus Enzensberger auf ihre Gedichte aufmerksam. Die folgenden Lyrikbände Und niemand weiß weiter sowie Flucht und Verwandlung erschienen endlich im Westen. Doch der einsetzende Erfolg und ihre erste Reise nach Deutschland überforderten sie: "Meine Wohnung war das Telegraph-Zentrum mit Morsezeichen und allen Finessen. Ich habe versprochen, darüber zu schweigen, und werde es auch tun. Aber diese Wohnung ist mir ein solcher Schrecken geworden, daß ich darin nicht mehr verbleiben kann." Nach ihrer ersten Deutschlandreise wurde sie in die Nervenklinik Beckomberga eingeliefert. Die Selbstbeherrschung, mit der sie die Auflösung der väterlichen Gummiwarenfabrik in Berlin, den Abtransport von Familienangehörigen und Freunden, die belastende Pflege ihrer Mutter und nicht zuletzt die Widrigkeiten des Exils ertragen hatte, war zusammengebrochen; sie litt unter schlimmen Psychosen, fühlte sich von ihren Verfolgern gejagt, zurückversetzt in die Jahre der permanenten Bedrohung. Sie glaubte sich Tür an Tür mit ihren Henkern, abgehört und überwacht.

Fahrt ins Staublose

Als Holocaust-Überlebende kam Sachs zwar physisch mit dem Leben davon, doch das Wissen um die Toten, die ständige literarische und gedankliche Beschäftigung mit deren Vernichtung führte zu schweren Schuldgefühlen und dem Infragestellen ihres eigenen geretteten Lebens. Die Halluzinationen und Verfolgungsängste behandelte man mit Elektroschocks. Das Schreiben, auch dieses Mal ihr einziger Ausweg, war unter solchen Behandlungsmethoden nicht leicht "(..) weil ich alles vergesse - nur was ich vergessen soll, vergesse ich nicht" , schrieb sie an Enzensberger.

Trotz der äußerlichen Erfolge - 1961 erschien der Sammelband Fahrt ins Staublose bei Suhrkamp, zahlreiche Preise und Festschriften folgten - kehrte sie in die Einsamkeit ihrer Wohnung zurück. Erst das Treffen der Gruppe 47 1964 in der Nähe von Stockholm führte zu neuerlichen Kontakten mit Zeitgenossen. Im selben Jahr erschienen die Glühenden Rätsel beim Insel-Verlag. Ein Teil dieser Gedichte war noch in der Nervenklinik entstanden; es sind ihre kürzesten Gedichte. Viele Bilder gehen von einer privaten Situation aus, die ins Allgemeine führt. Die schon früher benützten Gedankenstriche am Ende des Gedichts zeigen eine Grenze an, über die hinaus Sprache nicht mehr möglich ist: Ich wasche meine Wäsche / Viel Sterben im Hemd singt / da und dort Kontrapunkt Tod / Die Verfolger haben ihn mit der Hypnose / eingefädelt / und der Stoff nimmt willig auf im Schlaf -

Nelly Sachs erhielt als erste Frau den Friedenspreis in der Frankfurter Paulskirche für ihr "Werk der Vergebung, der Rettung, des Friedens" . Die Presse war wieder bezaubert von der kleinen Dame im viel zu großen Stuhl, und Bundespräsident Lübke dankte ihr dafür, dass sie trotz des Unrechts, das ihr widerfahren war, "treu zur ihrer Heimat" stehe. Als man sie 1967 neuerlich nach Deutschland einlud, weil sie, die Berlinerin, die man vertrieben hatte, zur Ehrenbürgerin ihrer Geburtsstadt ernannt wurde, sagte sie ab. Die CDU-Fraktion hatte nämlich gegen den SPD/FDP-Fraktionsbeschluss gestimmt: Nelly Sachs habe sich "nicht in einem solchen Maße um diese Stadt verdient gemacht, dass eine Ernennung zum Ehrenbürger gerechtfertigt wäre" . (Sabine Gruber, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 08./09.05.2010)