Standard: China, Indien und die anderen Bric-Staaten wachsen weit schneller als die USA und Europa. Was bedeutet das für das ökonomische Gleichgewicht?

Gill: Es gab einmal eine Zeit, da erbrachten China und Indien 50 Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Ihr Anteil sank bis ins 20. Jahrhundert stetig ab, zunächst unter zehn, dann unter fünf Prozent. Jetzt holt sich Asien einen Anteil zurück. Es gibt nun viele Leute, die das beunruhigt, denn da sind zwei riesige Staaten, die immer mächtiger werden.

Standard: Was ist daran beunruhigend?

Gill: Für mich ist entscheidender, dass da zwei Länder mit einem vergleichsweise sehr niedrigen Pro-Kopf-Einkommen immens wachsen. Das Maß, in dem Armut in China, und in etwas geringerem Ausmaß in Indien, zurückgeht, ist beispiellos in der Weltgeschichte. Wer sich also um Armut auf der Welt schert, und ich glaube das tun wir alle, sollte über das Wachstum in China und Indien sehr froh sein.

Standard: Entsteht in China die nächste Blase?

Gill: Es gibt natürlich Risiken. Die große Angst in China ist, dass der Staat mit dem großen Stimuluspaket von rund 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts immense Kapazitäten geschaffen hat, die kein Mensch braucht. Da wurden beispielsweise unzählige Straßen gebaut, wo unklar ist, ob sie jemals befahren werden. Gleichzeitig wurde beispielsweise in die Produktion von Solaranlagen weit mehr investiert, als die Nachfrage derzeit rechtfertigen würde ...

Standard: Ist das wirklich so gefährlich?

Gill: Andererseits hat China auch in der Vergangenheit viele Analysten überrascht, vielleicht werden diese Straßen also schon bald auch befahren. Bei meinen Besuchen in China hatte ich das Gefühl, dass die Behörden sich der Risiken stark bewusst sind und äußerst vorsichtig agieren.

Standard: Aber das Wachstum der Bric-Länder beruht nur auf Exporten in den Westen. Ist das nicht eine schwache Basis?

Gill: Ja, aber Staaten wie China, Indien, Brasilien und Russland haben gar keine andere Wahl, als auf die westlichen Märkte zu drängen, denn da ist das große Geld. Indien exportiert seine Dienstleistungen sehr erfolgreich, China seine Industriegüter und Brasilien seine Rohstoffe. Mit Ausnahme Russlands sind also alle Staaten ganz gut mit ihrer Annäherungsstrategie an den Westen gefahren. Insbesondere, weil Entwicklungsländer und aufstrebende Nationen im Gegensatz zu westlichen Industriestaaten oft sehr instabil sind und immer wieder in Rezessionen abrutschen. Die Annäherung an den Westen ist also auch ein großer Stabilisierungsfaktor. Die große Aufgabe wird nun sein, in all diesen Staaten eine stabile Mittelklasse aufzubauen, und das geschieht bereits.

Standard: Das Reich der Mitte wird auch für seine großen Handelsüberschüsse kritisiert. Teilt die Weltbank diese Einschätzung?

Gill: Die Kritik an China ist etwas einseitig. China spielt nämlich eine ganz wichtige Rolle in Asien, die im Westen kaum gesehen wird. Die ganze Welt beschwert sich über den großen Handelüberschuss den China erzielt und aus der europäischen, amerikanischen Perspektive ist das richtig. Aber niemand spricht darüber, was für ein guter Nachbar China in Asien ist, dass das Land gegenüber seinen asiatischen Nachbarländern große Handelsbilanzdefizite einfährt. In Indien passiert in kleinem Umfang das Gleiche. Von der Perspektive des wirtschaftlichen Gleichgewichts sind die beiden Staaten also gute Nachbarn. (András Szigetvari, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 7.5.2010)