Vor dreißig Jahren zu Mai-Beginn stand Jugoslawien im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit. Am 4. Mai starb der 88-jährige Josip Broz Tito, der Schöpfer und Herrscher des zweiten Jugoslawien. Vier Tage später wurde er in Anwesenheit von vier Königen und 31 Staatspräsidenten, 22 Premierministern und 47 Außenministern in Belgrad begraben. Der Berufsrevolutionär und siegreiche Führer der kommunistischen Partisanen, Sohn eines Kroaten und einer Slowenin, war eine der umstrittensten und bedeutendsten Persönlichkeiten in der Balkangeschichte des 20. Jahrhunderts.

Das 1918 von den Siegermächten aus der Taufe gehobene "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" brach 1941 in erster Linie wegen der ungezügelten und von den serbischen Hegemoniebestrebungen ins Unerträgliche gesteigerten nationalen Feindseligkeiten auseinander. Das Bekenntnis zur Föderation gleichberechtigter Nationen war einer der entscheidenden Faktoren, die der Partei Titos unter dem Banner von "Brüderlichkeit und Einheit" zur Machtergreifung verholfen haben.

Das titoistische Jugoslawien galt jahrzehntelang als Ausnahmeerscheinung in der kommunistischen Welt. Der Bruch zwischen Tito und Stalin 1948 war eine Zäsur. Er zeigte den Völkern des Ostblocks, dass sich ein kommunistischer Staatslenker zum Leninismus bekennen und zugleich von der Moskauer Zentrale unabhängig bleiben konnte. Der Sonderfall Jugoslawien hat mehr als alles andere (1956 und 1968) die Einheit des kommunistischen Blocks zerstört. Ein weiterer wichtiger Faktor hinter dem heute für so viele so unverständlich erscheinenden Prestige des Vielvölkerstaates war auch die sogenannte "Blockfreie Bewegung" und die bahnbrechende Rolle, die Tito dabei mit Nasser und Nehru spielte. Ein dritter Grund für die Bewunderung, gerade in den linken Kreisen im Westen und unter den kommunistischen Reformern im Osten, war, dass Jugoslawien einen "dritten Weg" zwischen Staatssozialismus orthodoxer Prägung und der westlichen freien Marktwirtschaft durch die Selbstverwaltung der Wirtschaft und die Dezentralisierung der Verwaltung symbolisierte.

Trotz der lange verschwiegenen Terrorkampagne und langjähriger Schreckensherrschaft nach der Machteroberung wurde Jugoslawien schon ab den späten Sechzigerjahren so etwas wie eine relativ freizügige kulturell-wissenschaftliche Oase, verglichen mit den Ostblockländern. Hunderttausende fanden Arbeit im Westen, mit dem jugoslawischen Pass konnte man visumfrei herumreisen. Der Sprengstoff zur Selbstzerstörung des Vielvölkerstaates der sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen hatte sich indessen lange angehäuft.

Generationen von Historikern werden sich mit Sicherheit noch mit der Frage beschäftigen, ob der Weg vom Zerfall zum selbstmörderischen Krieg unvermeidlich war. Dass Marschall Tito heute überraschend vielen Bürgern der Nachfolgestaaten als mythische Klammer des im Inferno der blutigen Abrechnung versunkenen Vielvölkerstaates, als Symbol einer "Jugo-Nostalgie" erscheint, ist angesichts des vergessenen internationalen Ruhms seiner langen Herrschaft fast folgerichtig. (Paul Lendvai, DER STANDARD, Printausgabe, 6.5.2010)