Pinar Selek, Autorin des umstrittenen Buches: "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt"

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Wie wird ein Mann zum Mann? Welcher gesellschaftlicher Mechanismen bedarf es, um Identitäten auszubilden, die gemeinhin als "männlich" gelten? Was genau – und welche Widersprüche – müssen junge Männer lernen, um den Anforderungen eines "echten Mannes" gerecht zu werden? Die türkische Soziologin Pinar Selek ist diesen Fragen in ihrem Buch "Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt" nachgegangen.

Obwohl die darin publizierten Ergebnisse auf einer Studie basieren, die Männlichkeitsmechanismen vor allem aufgrund des Wehrdienstes in der Türkei untersucht hat, will Pinar Selek ihre Erörterungen nicht auf die Türkei beschränkt sehen, sondern die universellen Muster männlicher Identifikation beleuchten und hinterfragen, auf welche Weise sexistisch-patriarchale Kulturen Frauen und Männer unterdrücken. Angesichts der Tatsache, dass die Existenz eines Individuums erst dann akzeptiert wird, wenn es sich einer genderisierten, also imaginären Gemeinschaft zuordnen lässt, möchte sie zeigen, wie Geschlechternormen geformt werden.

"Es ist jetzt wirklich nötig, diese Thematik anzusprechen. Weltweit gibt es überall Kriege, das muss ein Ende haben. Ich möchte verstehen, wie öffentliche Gewalt entsteht und warum Männer als Träger der Gewalt fungieren", erklärte die Autorin ihre Beweggründe bei der Buchpräsentation und Diskussion am 18. Mai in der Hauptbücherei Wien. Als Feministin kämpfe sie gegen Patriarchalismus und wolle die Codes lösen, die dafür verantwortlich seien: "Wie kommt es, dass aus einem Kind ein Mörder wird?" Das System müsse als Ganzes angesehen werden, um zu erkennen, wie die männliche Gesellschaft formiert ist.

Wie heiß das Thema tatsächlich ist, zeigt sich an den unterschiedlichen Reaktionen auf das Buch. Kurz nach seinem Erscheinen in der Türkei 2008 musste Pinar Selek ihr Land verlassen. Sie habe Drohanrufe erhalten, denn "das Militär darf nicht kritisiert werden", so Selek. Auf der anderen Seite wird die Publikation, die bereits zum vierten Mal aufgelegt wurde und seit zwei Monaten auch in deutscher Sprache vorliegt, bejubelt und vom türkischen PEN-Zentrum mit dem diesjährigen Duygu- Asena-Preis ausgezeichnet. Der Aufruhr liegt vermutlich auch daran, dass die Autorin für das Aufgreifen von Tabuthemen bekannt ist und 1998 unter Terrorverdacht zweieinhalb Jahre inhaftiert war. Obwohl sie zweimal freigesprochen wurde, musste sie immer wieder dagegen ankämpfen, als "Bombenlegerin" kriminalisiert zu werden.

Das Buch, dem Interviews mit 58 türkischen Männern unterschiedlicher Klassen, Berufs- und Altersgruppen, die verschiedene kulturelle und ideologische Hintergründe mitgebracht haben, zugrundeliegen, beschreibt fünf Stationen, die ein Mann durchlaufen muss, um die in der Türkei traditionell anerkannte Rangstufe der Männlichkeit zu erreichen: Beschneidung, Militärdienst, Arbeit finden, heiraten und Vater (eines Sohnes) werden. Jeder erfolgreich beendete Abschnitt wird mit einem Fest, einer Art Initiation, gefeiert.

Trennung von der weiblichen Welt

Bei der Beschneidung als religiöser Pflicht geht es nicht nur um den Übergang vom Buben zum Mann, sondern auch darum, dass er sich nun vom Mädchen und der Frau offiziell unterscheidet. "Sie werden dir ein Stückchen wegschneiden ... sollen die Mädchen doch platzen vor Neid", wird dem etwa Fünfjährigem beim Ritual zugerufen. Um ihm seine Angst zu nehmen – bzw. zu suggerieren, dass er sie nicht haben darf – wird der Bub als Sultan, quasi als Held, verkleidet und als männlich gefeiert. Die Kulturtheoretikerin Hannah Rachel Bell sieht die Beschneidung als ein "dramatisches Losreißen von der Welt der Mutter" und als erste Stufe der männlichen Geschlechtsidentität. Der Bub muss die weibliche Welt verlassen und folgende Fähigkeiten entwickeln: zu besitzen, zu leiten, zu versorgen, zu beschützen, zielgerichtet zu handeln, Beziehungen zur Außenwelt aufzubauen, zu ficken, Schwierigkeiten zu überwinden und widerstandsfähig zu sein, schreibt Pinar Selek. Um dies alles zu lernen, gilt der Wehrdienst als wichtigste Voraussetzung und Stufe der männlichen Identitätsbildung.

Die Ableistung des Wehrdienstes gilt deshalb als selbstverständlich, eine Pflicht, die man so bald als möglich hinter sich bringt, um in das zivile Leben zurück zu kehren und die weiteren Pflichten auszuführen. Es muss schon sehr triftige Gründe für die Befreiung vom Militär geben, beispielsweise Homo- oder Transsexualität. Nachdem dem Gesetz zu Folge nur heterosexuelle Männer zum Heer zugelassen werden und die Männer wissen, wie sehr ihr Ansehen und weiteres Leben davon abhängt, den Dienst geleistet zu haben, also als Mann anerkannt zu werden, versuchen viele Schwule, ihre Neigung zu verbergen. Manche Familien schicken ihre homosexuellen Söhne zum Militär in der Hoffnung, sie würden dort umgepolt und als "richtige Männer" zurückkehren.

Indem "Untauglichkeit" als Mangel gesehen wird, bedeutet die Musterung für die meisten Männer enormen Stress. Sie fürchten sich davor, "minderwertig" zu sein. Besonders die Untersuchung des Penis verunsichert sie. "Man wird gefragt, was für Probleme es gäbe. Besonders wird auf das Geschlechtsorgan geachtet. Ob man auch ein Mann ist ... sie haben bei allen nachgeschaut", berichtet einer der Interviewten von der Musterung. Die Prüfung der Funktion des Geschlechtsorgans kann als eine Art Männlichkeitsritual gesehen werden.

Doch auch nach der bestandenen Musterung findet die Angst kein Ende. Schauergeschichten, wie schlimm es beim Militär sei, dass physische und psychische Züchtigung auf sie warten würden, dienen nicht gerade dazu, die Männer zu beruhigen. Auch wenn ihnen geraten wird, dort nicht aufzufallen, alle Befehle widerspruchslos auszuführen, um den Strafen zu entgehen, gehen sie mit gemischten Gefühlen dem Ungewissen entgegen. Auch dieser neue Lebensabschnitt, ihr Abschied von der Familie, wird mit einem Ritual begangen. Bei einem Festessen mit Tanz, Lachen und Tränen wird dem "großen Soldaten und Helden" Mut gemacht. Er wird verabschiedet, als würde er auf eine lange Reise gehen.

Anpassung an Hierarchie und Gewalt

Dort angekommen, erfolgt die Normierung: "Die Körper werden durch verschiedene Rituale kodiert, normiert und standardisiert", schreibt Pinar Selek. Kurze Haare, Uniform, Befehle, Verbote, strenger Ton, Drill. Das schockiert sie am Anfang sehr, sie fühlen sich sich selbst entfremdet, manche sagen: "Ich war nicht ich selbst".

Mit der Zeit jedoch fügen sich die meisten Männer in die neue strenge Ordnung, befüllen die zu Beginn kritisierte Disziplin und Hierarchie mit Sinn – eine Gemeinschaft könne nur durch strenge Regeln funktionieren – und finden sogar die Ausübung von Gewalt, unter der sie zwar leiden, als selbstverständliche Notwendigkeit, um die Ordnung innerhalb der Armee zu gewährleisten. Gewalt wird als rechtmäßige Methode akzeptiert, als "gerechte Gewalt". Aus den Schilderungen der Männer geht hervor, dass die Vormachtstellung eines Mannes dann akzeptiert wird, wenn er stark, hart und erfolgreich wirkt und gleichzeitig aufrichtig und besonnen ist. "Wenn nötig soll er Gewalt anwenden, aber diejenigen, die ihm unterstehen, lieben und beschützen. Er muss also gleichzeitig 'prügeln' und 'lieben' können".

Die Mehrheit der interviewten Männer zeigt sich von der Sinnhaftigkeit des Wehrdienstes überzeugt. Sie sind sich sicher, nicht nur auf die Kriegsführung vorbereitet worden zu sein, sondern vor allem auf das Leben danach. "Meiner Meinung nach versteht jemand, der seinen Wehrdienst nicht gemacht hat, überhaupt nichts vom Leben. Man lernt dort, die Dinge wertzuschätzen. Man lernt, die Mutter und den Vater wertzuschätzen", sagt ein Soldat. Und ein anderer: "Der Wehrdienst macht einen weiser. Er macht einen härter. Und er lehrt gute Dinge. Sie werden einem im zivilen Leben von großem Nutzen sein." Fast die Hälfte der Männer ist der Meinung, dass die Armee einen Mann erst zum Mann macht; die andere Hälfte akzeptiert das indirekt. Ihnen zufolge sind Verantwortungsbewusstsein, die Fähigkeit mit Schwierigkeiten fertig zu werden, das Lernen des Umgangs mit einer Waffe und das Erlernen des Kämpfens, das Erlangen von Reife und Härte die "maskulinisierenden" Eigenschaften und Kompetenzen, die die Armee vermittelt.

Etablierte Männlichkeit als Differenz

Die Gesamheit der Studie zeigt außerdem, dass aufgrund der Abbrühung beim Wehrdienst alle Männlichkeitsmechanismen verstärkt und in ihrer Wirkung gefestigt werden. In der Folge zeitigt die Anpassung an diese Geschlechtsmuster eine hierarchische Trennung von den Frauen. Die Männer werden darin geprägt, dass gute Eigenschaften wie Tapferkeit und Angriffslust männlich seien und wertlose Eigenschaften wie Emotionalität und Schwäche weiblich. Dadurch stärkt das Heer die herrschenden patriarchalen Werte in der Gesellschaft. Oder mit den Worten der Politologen Onur und Koyuncu von der Universität Ankara gesagt: Maskuline Gruppierungen wie Armee, Fußballmannschaften und Knabeninternate würden Männlichkeit konstruieren und somit die Geschlechterdifferenz erst ins Leben rufen. Dies führe zu Solidarität unter Männern und zum Ausschluss von Frauen.
(Dagmar Buchta/diestandard.at, 20.05.2010)