Elisabeth Schandl ist seit 2007 Präsidentin von orthoptik austria und Lektorin an der FH Campus Wien. Seit 1982 ist Schandl als Orthoptistin diplomiert.

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Beim "Cover Test" lenkt man die Konzentration des Kindes auf einen Würfel, deckt ein Auge ab und interpretiert die Augenbewegungen, die das Kind nicht beeinflussen kann.

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Schielen lässt sich in jedem Alter operativ beseitigen.

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derStandard.at: Kann es sein, dass man heute nicht mehr so häufig Kinder mit Schielbrillen sieht, wie in den 1970er-Jahren?

Elisabeth Schandl: Das Schielen ist nicht seltener geworden, aber die Therapie und die Schielbrillen haben sich verändert. Etwa sieben Prozent der Bevölkerung schielen. An dieser Zahl hat sich trotz besserer Früherkennungs- und Therapiemöglichkeiten nichts geändert. Unter anderem deshalb, weil immer mehr Frühchen überleben und die Menschen älter werden. Schielen kann im Alter auftreten, wenn die Augenmuskeln schwächer werden.

derStandard.at: Ist für das Schielen der Augenarzt zuständig?

Schandl: Es gibt nur wenige Augenärzte, die sich auf Strabologie, die Lehre vom Schielen, spezialisiert haben. Ein sehr aufwändiges Gebiet, weshalb es in den 1930er Jahren von den Augenärzten zu den Orthoptisten ausgelagert wurde. Die Diagnose und die Therapie des Schielens liegen ganz in unseren Händen.

derStandard.at: Wie kann man Schielen diagnostizieren?

Schandl: Kinder kommen mit einem dreiprozentigen Sehvermögen auf die Welt. Bis zum vierten Lebensmonat hat sich die Akkommodation entwickelt und das Schielen wird pathologisch. Deshalb sollte man die erste Mutter-Kind-Pass-Untersuchung von einem Augenarzt gemeinsam mit einem Orthoptisten und nicht nur vom Kinderfacharzt durchführen lassen.

Unsere Stärke ist, dass wir das Schielen sehr früh und ohne Geräte erkennen können. Beim sogenannten 'Cover Test' lenke ich die Konzentration des Babys auf einen Würfel und decke ein Auge ab. Dabei interpretiere ich Augenbewegungen, die das Kind nicht beeinflussen kann.

derStandard.at: Was kann man bei so kleinen Babys gegen das Schielen tun?

Schandl: Zuerst muss man vom Augenarzt abklären lassen, ob das Schielen des Babys mit organischen Veränderungen verbunden ist. Mit einer Eintropfuntersuchung klären wir, ob die Weitsichtigkeit höher als in dem Alter üblich ist. Falls nein, wird das gesunde Auge stundenweise mit einem Pflaster zugeklebt. Das ist nach wie vor die einzige Therapie um eine Sehschwäche am schielenden Auge zu verhindern. Da das benachteiligte Auge vom Gehirn nicht aktiviert wird, muss man es dazu zwingen. Falls das Schielen aber mit Fehlsichtigkeit verbunden ist, muss das Baby eine Brille tragen, damit die Sehentwicklung normal weitergeht und es mehr Chancen hat die Augen gerade zu halten.

derStandard.at: Wie lässt sich das Tragen einer Brille bei einem Baby praktisch durchführen?

Schandl: Fehlsichtige Kinder haben von der Brille einen Vorteil: Die Welt ist viel schöner. Das ist auch das Kriterium: Wenn ganz kleine Kinder freiwillig die Brille tragen, ist anzunehmen, dass sie Vorteile bringt. Falls nicht, ist das ein Zeichen, dass ich noch einmal nachhaken muss, ob die Brille wirklich passt.

Wenn im Rahmen der Schieltherapie das gesunde Auge zugeklebt wird, ist das allerdings nicht so einfach. Das Kind sieht ja mit diesem Auge gut und profitiert seiner Wahrnehmung nach nichts von dem Pflaster. Da braucht es dann die Mitarbeit der Eltern, engmaschige Kontrollen und gute Psychologie.

derStandard.at: Leiden Kinder, wenn sie eine Schielbrille oder ein Pflaster tragen müssen?

Schandl: Die schiachen braunen Pickerln, die es in meiner Ausbildung noch gegeben hat, sind hautfreundlichen Pflastern mit Bildmotiven gewichen. Außerdem sollte der Prozess zu Schulbeginn abgeschlossen sein. Vom Zukleben des Auges über den ganzen Tag oder sogar in der Nacht ist man abgekommen. Nach neueren Studien genügen bei einer massiven Einschränkung des Sehens maximal sechs Stunden am Tag. In dieser Zeit muss das Kind unter Aufsicht beschäftigt werden, Fernsehen alleine reicht nicht.

derStandard.at: Wie fühlt sich Schielen an?

Schandl: Bei angeborenem Schielen stellt sich das Gehirn von Beginn an so darauf ein, dass die Betroffenen nicht doppelt sehen. Doch wenn man ein schwaches Auge hat und dem gesunden passiert etwas, dann ist man wirklich arbeitsunfähig. Dass man das schielende Auge trainiert und korrigiert, ist also auch gesellschaftspolitisch eine Prophylaxe.

derStandard.at: Kann man Schielen im Alter noch korrigieren?

Schandl: Schielen lässt sich in jedem Alter operativ beseitigen, indem die Augenmuskeln verlagert und neu angenäht werden. Die Erfolgschancen sind hoch. Bei Erwachsenen muss man die Operation mittels einer Brille mit Prismenfolien simulieren. Dabei entsteht im Gehirn ein Effekt, als ob das Auge nicht schielen würde. So kann man abklären, ob der Patient nach der OP nicht Doppelbilder sehen würde, da das Gehirn ja auf das Schielen eingestellt ist. Ist das der Fall, kann man so operieren, dass ein geringer, kosmetisch unauffälliger Schielwinkel erhalten bleibt.

derStandard.at: Warum klebt man bei Kindern ein Auge zu und operiert nicht gleich?

Schandl: In Österreich sind die meisten Anästhesisten nicht begeistert, Babys in Narkose zu versetzen. Ab drei Jahren operieren dann eigentlich alle. Generell gibt es Tendenzen bei Kindern zu operieren, wo der Schielwinkel groß ist. Der Vorteil einer OP ist die frühe Behebung des Schielens. Der Nachteil ist, dass das Kind kosmetisch zwar gut ausschaut, aber die Eltern erst spät draufkommen, dass es doch schlecht sieht.

derStandard.at: Ist Schielen vererbbar?

Schandl: Ja, besonders beim Mikrostrabismus. Das ist ein ganz geringer Schielwinkel, meist nach Innen. Früher hat man "Silberblick" dazu gesagt. Es gibt klassische Schielfamilien, aber generell tritt Schielen genauso spontan wie vererbt auf.

derStandard.at: Kann man also auch später im Leben zu Schielen beginnen?

Schandl: Hinter einem plötzlichen Schielbeginn mit massiven Doppelbildern steht oft eine Krankheit wie Diabetes oder eine massive Durchblutungsstörung - etwa ein beginnender Schlaganfall. Auch nach Unfällen können spontanes Schielen und zentrale Wahrnehmungsstörungen auftreten. Mehr als 60 Prozent der Schädel-Hirn-Trauma-Patienten haben Probleme mit den Augen. Es ist ein Manko, dass die Orthoptisten im Rehabilitationsbereich zu wenig vertreten sind.

derStandard.at: "Schiel nicht, sonst bleiben die Augen stecken." Blöder oder berechtigter Spruch?

Schandl: Damit das passieren kann, muss man schon die Tendenz zum Schielen haben, etwa wenn ein Kind eine Neigung dazu hat und blöd herumspielt. Aber bei einem gesunden Menschen kann üblicherweise nichts passieren. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 5. 5. 2010)