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Andrea Roedig: "Gut und böse, Himmel und Hölle, man möchte sich hübsch an eine Ordnung halten, von der man doch eigentlich weiß, dass es sie so ganz genau nicht gibt." 

Foto: AP/Esteban Felix

Es ist kein Witz, aber man möchte trotzdem lachen. Vor ein paar Wochen noch durfte der deutsche Bischof Walter Mixa lauthals deklamieren, sexueller Missbrauch sei die Folge gelockerter gesellschaftlicher Sexualmoral, jetzt brechen ihm ein "paar Watsch'n" und finanzielle Unregelmäßigkeiten das Genick. Mein Gott, was alles möglich ist zur Zeit. Der so genannte "Missbrauchsskandal" scheint kein Ende nehmen zu wollen, und auch wenn man es schon nicht mehr hören oder lesen will, der higest score der schmutzigen Enthüllungen wird immer weiter nach oben korrigiert. Dass es so viele Schandtaten sind, die ans Licht kommen, liegt einerseits ganz klar an den lange Zeit beschwiegenen Verbrechen kirchlicher wie weltlicher Einrichtungen. Andererseits entsteht die hohe Zahl aber auch, weil der Topf, in dem die Opfer stecken, verdammt groß ist: "Missbrauch" hieß in der gegenwärtigen Debatte oft alles von der Ohrfeige bis zum Rohrstockgebrauch, vom zarten Streicheln bis zur Penetration. Es ist erstaunlich, warum jenseits der dümmlichen Abwehr, es handele sich nur um "Einzelfälle" und finde meist außerhalb der Kirchen statt, kaum jemand auf die Idee kommen will, doch einmal genauer zu fragen, wieso hier so einhellig von Missbrauch geredet werden kann und vor allem, warum der Begriff so gut als Signal taugt.

"Gier nach bußfertigen Schuldbekenntnissen"

Irgendetwas ist nicht geheuer an der Sicherheit, mit der vor allem in der deutschen Diskussion alle zu wissen meinen, dass wir es mit einem einzigen großen Delikt zu tun haben. Um die Opfer, so steht zu befürchten, geht es nur in zweiter Linie, die Skandale scheinen eher ein Anlass, nachträglich mit den Institutionen abzurechnen. Entnervend ist die eifrige Einseitigkeit, mit der sich konservative Zeitungen an der reformpädagogischen Odenwaldschule abarbeiten, noch lächerlicher aber wirkt das gespannte Lauern aller medialen Berichterstatter auf Bekenntnisse hoher kirchlicher Würdenträger. Da werden Hirtenbriefe und die Osterbotschaft einer akribischen Hermeneutik unterzogen, und wehe, wenn der Papst nicht auf die Missbrauchsfälle eingeht. Unter der Hand hat sich die öffentliche Meinung zur richtenden Instanz über den Klerus aufgeschwungen und imitiert dabei perfekt die kirchliche Gier nach bußfertigen Schuldbekenntnissen. Als ob die etwas helfen würden. Der empörte Aufschrei über das Verhalten der Kirche ist mittlerweile so scheinheilig wie jeder ganz normale Beichtstuhl.

Auch in anderer Hinsicht übernimmt die öffentliche Meinung eine Kirchenlogik, denn dass das Opfer rein und unschuldig sei, ist ebenfalls ein Paradigma christlichen Denkens. Gut und böse, Himmel und Hölle, man möchte sich hübsch an eine Ordnung halten, von der man doch eigentlich weiß, dass es sie so ganz genau nicht gibt. Es wird in den jetzt öffentlichen Missbrauchsfällen einiges an Unentscheidbarem und Ambivalentem vorkommen, es wird Opfer geben, die selber Täter wurden und Täter, die Opfer waren. Das aber interessiert noch niemanden. Der Begriff "Missbrauchsopfer" hatte immer etwas unangenehm Schlüpfriges, im Moment jedoch mutiert er zum frisch gewaschenen Haustierchen im heimischen Wortschatz. Bezeichnungen wie "Missbrauchsbeauftragter" oder "Missbrauchshotline" gehen mittlerweile so locker über die Lippen, als handele es sich dabei um so etwas wie ein Kundencenter.

Fordert der Missbrauch-Skandal eine neue Sprache?

Warum versucht niemand, eine andere Sprache für die Situation zu finden? Die Kirche braucht nicht einmal ein neues Vokabular, "Buße, Umkehr und Erneuerung" hat sie ehedem der Gemeinde gepredigt, jetzt predigt sie es eben auch sich selbst.

Und die Öffentlichkeit redet von Opfern und von Tätern. Keine Frage, es gibt sie. Doch sich in dieser Logik einzurichten ist gefährlich. Kirche und deutsche Reformschulen, schuldig wie sie sind, haben nun die vakante Position des Kinderschänders übernommen. Sie entlasten damit die Gesellschaft von ihrer Scham darüber, dass sie so lange weggeschaut hat und überdies immer irgendeinen Machtmissbrauch toleriert. Indem die öffentliche Meinung Prügel und sexuelle Gewalt so einhellig als "Missbrauch" verdammt, vergewissert sie sich auch eines neuen Paradigmas: der absoluten Liebe zum spärlich gewordenen Nachwuchs. Kinder haben heute einen ganz anderen Stellenwert als vor 30 Jahren. Sie sind das Tabu, das unberührt rein gehalten werden muss, daher wird jetzt nachträglich verurteilt. Diese unbedingte Liebe zum Kind spiegelt auf eigenartige Weise die "Pädophilie" der Täter und ist ihr vielleicht nicht ganz so fremd, wie der Sündenbockmechanismus glauben machen soll.

Aus den Diskussionen über sexuellen Missbrauch in den 1990er Jahren hatte man gelernt, sich nicht auf die Opfer und Täter zu konzentrieren, sondern auf die unterliegende Struktur gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Darüber hinaus wusste man um die Nachteile des Wortes "Missbrauch", zeitweise galt "sexuelle Gewalt" als der bessere Begriff.

"Missbrauch des Missbrauchs"

Von solchen Differenzierungen ist heute kaum mehr die Rede. Der Geist der Zeit ist eigenartig, liberal und prüde zugleich. Er ist aufgeklärter als die Kirche aber wesentlich ängstlicher als jene Zeit, in der reformpädagogische Ideen blühten. Das Transgressive und Uneindeutige des Begehrens ist weggeputzt, dass Kinder und Jugendliche sexuell agieren, darf im Moment so wenig gedacht werden wie die erwachsene Reaktion darauf. Es ist, als bekämpfe man in der großen Kirchenschelte auch eine eigene Angst.

Manchmal ist es wichtig, auch unklare Dinge klar zu benennen, und die Skandalisierung unter dem Schlagwort "Missbrauch" hat ihre gute Funktion. Die Bischöfe sollen ruhig stürzen. Doch es bedarf eines komplexeren Denkens, nicht zuletzt, weil die binäre Logik allzu schnell kippt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Stimmung umschlägt, und auf eine Debatte über sexuellen Missbrauch folgt eine über den "Missbrauch des Missbrauchs" fast so sicher wie das Amen in der Kirche. Dagegen hilft nur vorbeugen und klar sehen, dass "Missbrauch" immer etwas mit Strukturen zu tun hat, und dass der Begriff, unkritisch verwendet, genauso viel versteckt, wie er enthüllen möchte. (dieStandard.at, 4.5.2010)