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"Das größte mediale Ereignis in der bisherigen Geschichte Polens war von fataler Symbolkraft": Trauerprozession für den verunglückten Präsidenten Lech Kaczynski in den Straßen von Krakau. Foto: Reuters

Foto: Reuters/Michal Zagumny

Die Führer der Welt pilgerten zum Grab des neuen Messias und Königs von Polen. So wird die Präsidentenbeerdigung von Sonntag ins kollektive Unbewusste Polens eingehen. Nach dem Flugzeugunglück vom 10. April bei Smolensk droht nun die Politik und Kultur Polens insgesamt durch eine mächtige Wiederauferstehung der nationalen Mythen vergiftet zu werden.

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Als der verunglückte polnische Präsident am letzten Sonntag im national-mythischen Heiligtum Wawel unter Anteilnahme der gesamten Weltöffentlichkeit beerdigt wurde, war dies nicht nur das größte mediale Ereignis in der bisherigen Geschichte Polens. Dass mein Land sich ausgerechnet bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal der ungeteilten globalen Aufmerksamkeit sicher sein konnte, hatte vor allem auch eine fatale Symbolkraft. Es wird die meisten Polen noch einmal darin bestärkt haben, jenen Weg weiter zu gehen, den das Land nach dem Flugzeugunglück vom 10. April eingeschlagen hat, und der nun zunächst - auch ganz buchstäblich - auf dem Wawel-Berg gipfelte. Die trotzige Verknüpfung und Einreihung alles Weltgeschehens mit den und in die Deutungsmuster, die die polnische Nationalmythologie vorzeichnet, erscheint seither jedenfalls erst recht als der Königsweg für Polen.

So befremdlich und anachronistisch die poleneigene symbolische Überfrachtung eines Flugzeugabsturzes und die Inszenierung auf Wawel sich im Rest der Welt also auch immer ausgenommen haben mögen. Genau hier droht Polen jetzt diejenigen Formen zu erkennen, durch die das Land sich endlich uneingeschränkt und dauerhaft als in der modernen Staatenwelt 'angekommen' und ‚angenommen' empfinden kann. Das bedeutet vor allem, das wiedergeborene Polen betritt die Weltbühne nun tragischerweise nicht als aufgeklärte, streitbare, selbstbewusste Demokratie (wofür seine Geschichte eigentlich auch gute Voraussetzungen böte) - sondern als trauriges Beispiel dafür, wie zuverlässig nationalmythische und -religiöse Konstruktionen auch noch das Geschehen in modernen Demokratien zu steuern vermögen.

Furcht und Einigkeitszwang

Der im Grunde ganz der Selbstverteidigung dienende polnische Nationalismus sowie die ihn stützenden nationalen Mythen erzeugen zudem, zumindest nach innen, auch einen erheblichen Druck - sich stets einig zu zeigen vor allem. Und dies erschwert nicht nur die furchtlose öffentliche Äußerung abweichender Meinungen, die für eine funktionierende Demokratie unerlässlich ist, sondern auch die nun dringend nötige Auseinandersetzung über die dafür verantwortliche, vom Katholizismus durchtränkte Geschichtsmythologie Polens - die aus einem Unglück, einem Leid und einer Furcht geboren sind, die Polen eigentlich längst nicht mehr in ihren Bann ziehen dürften.

Wie entscheidend die Auseinandersetzung mit diesem nationalmythischen Komplex für die weitere Entwicklung der politischen Kultur in Polen ist, zeigte sich in den letzten Tagen besonders deutlich. So hat die Entscheidung, Lech Kaczyński auf dem Wawel zu begraben, zwar wachsende Proteste und Kritiken seitens polnischer Intellektueller provoziert, veröffentlicht unter anderem bei der Gazeta Wyborcza. Doch die Kritiken vermieden peinlichst, das eigentliche Problem anzusprechen. „Der Könige nicht würdig", lautete so einer der häufigsten Kritikpunkte und Protestparolen. Der Wunsch, Kaczyński vom mythischen Ort fernzuhalten, implizierte eben keineswegs notwendig, dass man auch irgendwelche Probleme damit hat, dass die sentimentale polnische Nationalmythologie die Politik des Landes zusehends bestimmt und beherrscht. Letztlich möchte in Polen niemand wirklich an den nationalen Mythen rühren. Dabei haben sie zuletzt nicht nur eine kritische Würdigung der Leistungen des verunglückten Präsidenten unmöglich gemacht. Erschreckend war vor allem, wie präzise sie die gesamte Verarbeitung des Flugzugunglücks vom 10. April - in den Medien, und durch Politik und Kirche - steuerten.

Nützliches Leiden und Märtyrertum

Das Flugzeugunglück bei Smolensk hat sich auf diese Weise inzwischen als gleich doppelt tragisch erwiesen. Eigentlich nämlich bietet seine erschreckende Sinnlosigkeit die für lange wahrscheinlich beste Chance, den opfermythologischen und eschatologischen Sinnzwang der polnischen Kultur endlich einmal gründlich in Frage zu stellen. Stattdessen aber wurde es nun zum zentralen Anlass und Ausgangspunkt für dessen umfassende Wiederauferstehung.

Dass im Laufe der letzten Woche zunächst einmal irgendwie Smolensk zu Katyn und Katyn zu Smolensk wurde, haben polnische Diplomaten und Korrespondenten den verwunderten Zuschauern in aller Welt in zahllosen Interviews vor allem mit Hinweis auf das polnische "Märtyrertum" verständlich zu machen versucht. Es geschah nämlich in ein und demselben Wald sowie unter völliger Unsichtbarkeit, damals wie heute. Aber nicht nur die unmittelbaren Konsequenzen blieben dabei stets erschreckend unbefragt und unbesprochen. Dass also etwa die Opfer von damals nun mit denen von heute zu verschmelzen drohen, und dass man nicht mehr wusste, um welche Art von "nationaler Elite" es sich handelt, und wer eigentlich wofür und warum genau gestorben, verunglückt oder ermordet worden ist. Man sprach nun stattdessen einfach mit Worten, die man der Beschreibung des Massakers von Katyn entnahm, sprach also von Elite, von politischen Opfern und von Heldentaten. Es stimmt zwar, dass die meisten Polen sich vor allem danach sehnten, dass die Sinnlosigkeit des Ereignisses und seiner Opfer überwunden werden möge - ist man doch in der nationalen romantischen Tradition groß geworden, Leid stets in sinnhaftes, nützliches Leid umzudeuten. Im Grunde ist dies aber erst die halbe Wahrheit.

Messianismus, nicht bloß Märtyrertum

Im 18. Jahrhundert wurde Polen geteilt, getilgt und ausgelöscht durch die angrenzenden Mächte und der letzte König von Polen, Stanisław August Poniatowski, ist 1798 in russischer Gefangenschaft gestorben. Und bis zum ersten Weltkrieg dann gab es den polnischen Staat nicht. Soweit ist die Geschichte auch über Polen hinaus recht gut bekannt. Entscheidend für das Verständnis der aktuellen Vorgänge sind allerdings noch zwei weitere historische Aspekte. Zum Einen die Rolle, die die katholische Kirche in der Folge spielte. Sie ersetzte nun nämlich in gewisser Weise den polnischen Staat und hielt das polnische Volk zusammen. So waren die Kirchen lange die einzigen Orte, an denen man sich ungestraft und unbeschwert der polnischen Sprache bedienen konnte. Und die deutlichste Anknüpfung an die polnischen Nationalmythen findet so dann auch gegenwärtig wieder in den Äußerungen katholischer Würdenträger sowie in den Kirchen statt.
Zum Zweiten muss man verstehen, wie das nationale Leid und Unglück im 19. Jahrhundert dann verarbeitet, und wie genau es für die Polen sinnhaft wurde.

Entscheidend sind hier, genauer gesagt, die Mythen der polnischen Romantik, allem voran die des polnischen Messianismus. Diesen gab es in zweierlei Ausführung, von zwei miteinander konkurrierenden Nationaldichtern, für die es im Polnischen im Übrigen einen eigenen, bis heute allgemein gebräuchlichen Begriff gibt, der sich in etwa mit 'Nationalpropheten' übersetzen ließe: Adam Mickiewicz (1798-1855) und Juliusz Słowacki (1809-1849) - beide ebenfalls auf dem Wawel begraben. Der erste schuf die Idee Polens als „Christus der Völker", nach der das polnische Volk zum Messias und Erlöser aller Nationen wird. Der zweite sprach von „Polen als Winkelried der Völker", setzte Polen also mit der mythisch-schweizerischen Figur Arnold Winkelrieds gleich, der 1386 in der wichtigsten Schlacht zwischen Habsburgern und Eidgenossen die Lanzen der Gegner an sich gerissen und - sich selbst aufspießend - den Eidgenossen eine Bresche geschlagen haben soll.

Dieses Opfer soll der Schlüssel zum Sieg gegen die Habsburger Übermacht gewesen sein. Der Legende nach soll er zuvor außerdem noch die Worte „Der Freiheit eine Gasse!" gerufen haben. Kurz gesagt funktioniert der polnische Messianismus also so: Polen nahm - in und durch seinen Untergang im 18. Jahrhundert - die Leiden aller Nationen auf sich, so wie der Messias es für alle Menschen getan hat, um sie zu erlösen. Polentum, die Liebe zu Polen, ist also eigentlich eine eigene Religion. Und so krass wie dies klingt, so krass ist es dann auch. Denn es sorgt unter anderem dafür, dass man als Pole für alles säkulare Geschehen, mindestens insgeheim, immer auch eine zweite religiöse Deutung mitdenkt. Und dabei spielt die Pilgerfahrt außerdem eine ganz zentrale Rolle. Entsprechend geschah am letzten Sonntag in Wahrheit eigentlich dies: Die Oberhäupter der modernen Staatenwelt pilgerten zur Grabesstätte des neuen Messias, und bezeugten so zugleich auch endlich den Messianismus Polens überhaupt. Und dass unter anderem Obama nicht dabei war, gibt auch bereits wieder Anlass für die Deutung, man habe Polen - wieder einmal - "alleine gelassen".

Ein neuer Spiegel und Bezugsrahmen

Man ahnt nun auch schon, wie die stets gleiche poleneigene Transformation von Sinnlosigkeit in Sinn funktioniert, und wie sie nun auch im vorliegenden Fall wieder griff: Lech Kaczyńskis Unfalltod wurde nicht nur zu einem Märtyreropfer, nein, er öffnete zudem, ganz messianisch, „der Freiheit eine Gasse". Die Russen trauern endlich, Katyn und das Leid Polens überhaupt wird in die Erinnerung der ganzen Welt zurückgerufen - es war eine Heldentat. Wie Absichten, glückliche und unglückliche Zufälle, Ursachen und Wirkungen sich in dieser Geschichte tatsächlich zueinander verhalten, wird dabei vollends irrelevant. Dieses Denken ist ganz und gar mythisch und religiös.

Darum fragt auch kaum noch jemand, warum die besondere Ehrerbietung eigentlich nur Kaczyński zukommen soll, und wie sich dies angesichts der vielen anderen Toten ausnimmt, die dann ja wohl eigentlich auch "der Freiheit eine Bresche geschlagen" haben - und insbesondere angesichts all der mitreisenden Nachfahren der tatsächlichen Opfer von Katyn. Sie werden ja nicht auf Wawel begraben. Logisch durchgehalten wurde in diesem ganzen Symboltheater nur die 'große Linie' sozusagen. So erinnerte in der Messe am Sonntag einer der kirchlichen Würdenträger dann auch mit einem Paulus-Zitat daran, dass der „auferstandene Christus nicht mehr sterben wird". In dieser Allegorie kommt Polen ganz zu sich, dieses Bild macht den Polen aller politischen Richtungen Hoffnung. Dass das gespenstische Mythentheater auf dem Wawel solche Momente der Einigkeit ermöglichte, macht es in Polen nun aber vor allem auch schon fast unmöglich, noch zu kritisieren, wie diese Momente hergestellt wurden.

Als nächstes wird nun wohl Jarosław Kaczyński zur lebenden Inkarnation seines verunglückten Zwillingsbruders, des letzten Königs von Polen, dem es diesmal nicht verwehrt wurde, wie König Poniatowski, in der Wawel-Burg zu ruhen. Und so, zurückversetzt ins 19. Jahrhundert, als die Nationalmythen angesichts der Lage der Polen allerdings noch politischen Sinn ergaben, geht mein Land nun in einen Wahlkampf, der es noch weiter in den Nebel nationalmythischer Ideologien führen dürfte - wenn jetzt nicht noch etwas dazwischen kommt. Wie ein sich verstetigendes internationales Medieninteresse etwa, in dessen Spiegel sich dann vielleicht auch Polen selbst allmählich einmal etwas befremdlich vorkommt. (Langfassung des in DER STANDARD, Printausgabe, 22.4.2010 erschienenen Texts)