Bild nicht mehr verfügbar.

Trude Fleischmann / Wr. Stadtbibliothek/APA

Es ist Krieg", aber anders als bei Karl Kraus gibt es trotzdem "Würstel". Dieses Paradoxon eines komfortablen Schreckens vor dem Bildschirm kennzeichnet unsere Situation, wenn wir uns heute als Nachfahren heftig gebrannter Kriegskinder - endlich ausgiebiger, leidenschaftlicher von unseren Ängsten reden hören als alle Iraker, die gegenwärtig vor irgendeine Kamera gezogen werden.

Jüngst hat der Hörverlag München Die letzten Tage der Menschheit des Karl Kraus in der Frankfurter Rundfunkfassung von 1949, bearbeitet vom ehemaligen DDR-Dichter Stefan Hermlin, frisch auf den Markt gebracht. Man fragt sich nach den ersten Szenen schon: Wozu, nachdem Helmut Qualtingers Soloversion der Tragödie sämtliche anderen Versuche und Teilinszenierungen des Werkes längst obsolet erscheinen lässt?

An der historischen Frankfurter Aufnahme, die nicht mehr als eine karge, lederne Schulfunkversion dokumentiert, welche die Vielschichtigkeit und den irrationalen Kriegsrausch der Tragödie mit dem Zeigestock ausnüchtert, ja entdämonisiert, offenbart sich immerhin eine bis heute weit verbreitete Fehleinschätzung des Werkes. Was Brecht und seine Regisseure für ihre Zwecke Karl Kraus entnahmen, ist als Kraussche Dramaturgie irreführend. War für Brecht der wahrhaft aufgeklärte Bewusstseinsstand allemal schön und Poesie genug, so zielte Kraus auf kein bloßes Bewusstsein, sondern auf die Sammlung und Aufmerksamkeit in der Sprache, welcher der Reiz des Dunklen in der Poesie noch blieb, nachdem dieses Dunkle durch alle höchstmöglich reflektierte Klarheit hindurchgegangen ist. Die Sprache verriet ihm den Hochverrat der Phraseure, wie sie ihr innerstes Geheimnis, dieses im Schweigen verdichtend, bewahrte. Dies muss erlebt werden als die halb bewusstlose Selbstdekuvrierung der Täter. Sie sagen das Ungeheuerlichste selbst.

Das negative Ganze des todessüchtig in den Wahn stürzenden Kollektivs kommt über jede Einzelheit, prägt jeden Einzeltäter dieser monumentalen Selbstzertrümmerug einer Zivilisation. Das vom Blutrausch gezeichnete Ganze der Hetz muss immer mitgehört werden, in jeder Szene, in jedem Dialogfetzen noch. Das aber missglückt in der Frankfurter Version gründlich. Man versteht daher bis heute nicht, was Karl Kraus in der angehäuften, unspielbaren "Quantität" seiner Szenenmasse dachte und transzendierte. Nämlich das Ende der tragischen Kunst, den Beginn einer Epoche, in der es "keine Schuldigen", keine der Schuld fähigen, geistigen Wesen mehr gibt. "Denn uns alle treibt ein hohles Wort, doch nicht des Herrschers, sondern der Maschine." Das genau besagt den Untergang des Menschheitlichen, den geistigen Verlust der Subjektivität.

Der spezifisch "kakanischen" Tonlage der Krausschen Satire scheint der Rückweg aus der Bildungsvitrine des Historismus ins Deutsche bis heute versperrt zu sein. Kraus sammelte und redigierte unmenschliche, widerwärtige Taten, Zitate und Reden in V-Akten und einem Epilog, um sie vor einer übermenschlichen Instanz des Weltgerichts einst haarklein auszubreiten. Das war sein metaphysisches Drama, seine Verzweiflungstat, da der Nörgler keinen Verständigeren als den Optimisten mehr erreichte. Jede Interpretation des Werkes muss von hier ihren Ausgang nehmen.

Gültige Interpretationen der Tragödie müssen es wie Helmut Qualtinger mit der Mimesis des Unfassbaren, Untermenschlichen und des Wahns inmitten der Gemütlichkeit riskieren. Andernfalls entschärfen sie den wörtlichen, sprachkritisch präzise rekonstruierten Anschlag auf die Menschheit. Das Geschehen hinter den Tätern, das auch diese noch trifft als mechanische Puppen, als Automatismen einer Apokalypse, muss als österreichisch-preußisches Selbstmörderporträt sichtbar werden, sonst lohnt sich aller Aufwand nicht. Stefan Hermlin aber schneidet das Szenenmaterial auf eine politische Argumentation zu, die auch ohne jenes Material auskommt. Die theologische Dimension des Werkes erscheint überhaupt nicht.

Besonders in der Nörglerfigur, die nun wirklich ohne ihr erschütterndes Pathos unverständlich ist, bleibt die Aufnahme hinter allen bekannten und noch erdenklichen Versuchen zurück. Man kann die Rolle kaum zahnloser geben.

Karl Kraus' Antikriegshaltung im ersten aller Medienkriege ist nicht zu verwechseln mit Pazifismus. Denn Karl Kraus kannte noch schlimmere Zustände als den des Ersten Weltkriegs. Schon eineinhalb Jahrzehnte später bedurften die Betreiber der KZ-Höllen inmitten des ausgebrochenen dritten Reichsfriedens keines kriegerischen Vorwands mehr. Diesen KZ-Frieden wollte Karl Kraus in seinen letzten Publikationen der Fackel, bis zu seinem Tode 1936, expressis verbis vernichtet wissen, indem er alle noch human gearteten Kräfte Europas zur Gegenwehr mit den Waffen aufrief. Er tat das vergeblich, wie wir wissen, und zu seinem Nachteil, denn das Pariser Literatenexil, das er verhöhnte wegen der darin so tönend hohl gewordenen Antifa-Friedenslyrik, rächte sich und brachte ihn nach dem 2. Weltkrieg erfolgreich als Dollfuß-Freund und Reaktionär in Verruf.

Die historische Aufnahme dokumentiert ein anhaltendes Missverständnis bezüglich Werk und Person des Karl Kraus. Die Botschaft des Wiener Sprachkritikers auf unsere aktuellen Hundstage hin aber lautet: Die Sprache bringt es an den Tag. In Zeiten des Kriegs und der totalen Lüge haben wir uns an nichts als den Wortlaut zu halten. In ihm zeigt sich jetzt schon alles, was sein soll, aber nicht ist. (Von Wilhelm Hindemith/DER STANDARD, 12.04.2003)