Richard Wilkinson, Kate Pickett, "Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind" . € 19,90 / 333 Seiten. Tolkemitt-Verlag bei Zweitausendeins, Berlin 2009

Coverfoto: Tolkemitt-Verlag bei Zweitausendeins

Die gesellschaftliche Gleichheit ist in den letzten Jahrzehnten ziemlich aus der Mode gekommen. Wer für Umverteilung von oben nach unten plädiert, gilt als verstaubter Retro-Sozialist, wer für mehr Gleichheit plädiert, schnell als naiver Spinner. Wer sich als Egalitarier outet, muss sich den Vorwurf der "Gleichmacherei" gefallen lassen. Denn "Gleichmacherei" sei gefährlich, wurde argumentiert: Sie würde die Leistungsträger bestrafen, deshalb sei Ungleichheit funktional für prosperierende Gesellschaften. Ja, von einer Gesellschaft, die Ungleichheiten zulässt und ihnen sogar positiv gegenübersteht, hätten am Ende alle etwas, wurde argumentiert: Weil die Prosperität, die sie schafft, auch den Ärmsten nützt. Weil, was hätten die denn davon, wenn sie relativ zu den Reichen bessergestellt sind, sie aber eklatanten Mangel litten.

An all dem ist, kurz gesagt, nichts wahr. In den Fünfziger- bis Siebzigerjahren wurden die westlichen Gesellschaften sukzessive "gleicher" , und die Wachstumsraten waren hoch; seither geht die Schere der Ungleichheit wieder auf, und die Wachstumsraten sind niedrig. Also, dass wachsende Ungleichheit zu einer brummenden Marktwirtschaft notwendigerweise dazugehört, kann man getrost ins Reich der Mythen verbannen.

Der britische Ungleichheitsforscher Richard Wilkinson und die Epidemiologin Kate Pickett haben nun aber in einer fundamentalen Untersuchung nachgewiesen, wie sehr wachsende Ungleichheit schadet - und zwar jedem in einer Gesellschaft, sogar den "Profiteuren" . Gesellschaften mit einem hohen Grad an Ungleichheit haben durchschnittlich eine geringere Lebenserwartung, die Bürger sind ungesünder, das Bildungsniveau niedriger, mehr Menschen haben psychische Erkrankungen, die Kriminalität ist höher - und zwar ziemlich unabhängig vom Nationaleinkommen pro Kopf. Oder anders gesagt: In armen Ländern steigert Wirtschaftswachstum das allgemeine Wohlbefinden noch, aber in reichen Ländern haben Einkommenssteigerungen weniger Relevanz als die Verteilung des Reichtums. "Gesundheitliche und soziale Probleme kommen signifikant häufiger in Ländern vor, in denen die Einkommensschere weit geöffnet ist" , resümieren die Autoren.

Die beiden Forscher haben Berge von Datenmaterialien aus dutzenden Ländern angehäuft, und die Eindeutigkeit ihres Befundes ist tatsächlich frappierend. Das durchschnittliche Niveau der Lebensqualität ist in Ländern mit hoher Ungleichheit nicht bloß deshalb geringer, weil die Malaise der Schlechtergestellten den Durchschnitt drückt; sondern weil nahezu alle in diesen Gesellschaften unter dem sozialen Stress zu leiden haben. So hat ein Baby, das im relativ armen Griechenland geboren wird, eine um 1,2 Jahre höhere Lebenserwartung als in den reichen USA.

Auch weiße US-Mittelschichtsbürger haben eine geringere Lebenserwartung als vergleichbare Einwohner in den egalitären skandinavischen Ländern. Nun kann man das im Einzelfall auf schlecht funktionierende Institutionen schieben: Krankheit auf das miserable Gesundheitswesen, eklatante Bildungsmängel auf das Schulsystem. Aber das heißt ja nur: Gesellschaften mit einem hohen Grad an Ungleichheit werden von einem antiegalitären Geist durchweht, und der produziert schlecht funktionierende Institutionen.

Ungleichheit macht uns unglücklich. Sie führt dazu, dass das Vertrauensniveau in einer Gesellschaft sinkt, und damit zu mehr Kriminalität und auch Angst vor Kriminalität.

Gesellschaften mit einem hohen Grad an Ungleichheit sind Gesellschaften mit großer Statuskonkurrenz, und die versetzt Menschen durchgehend in Stress, verdunkelt ihr Gemüt, verschlechtert ihr psychisches Wohlbefinden. Das erklärt vielleicht, warum es auch den relativ Bessergestellten in diesen Gesellschaften oft noch schlecht geht: Weil sie immer Angst haben, dass sich jemand findet, der höher als sie in der sozialen Hierarchie steht. Ungleichheit vergiftet alle sozialen Beziehungen, nicht nur die zwischen der Upper- und der Underclass.

Ungleiche Gesellschaften führen für sich oft ins Treffen, dass in ihnen die soziale Mobilität höher ist: Oben und Unten trenne zwar ein hoher Wohlstandsgraben, aber jeder könne in ihnen nach oben aufsteigen. Auch das wird von dem Datenmaterial klar widerlegt. Wer in Gesellschaften, die materielle Armut akzeptieren, in Armut hineingeboren wird, bleibt unten. Und er wird auch noch durch unsichtbare Stereotypisierungen unten gehalten. Er bringt schlechtere Leistungen in der Schule, selbst dann, wenn er über die gleichen Fähigkeiten verfügt wie seine höher situierten Mitschüler. Der Statusstress durchzieht alles: Selbst Wunden heilen bei Unterprivilegierten langsamer, weil die Stresshormone, die sie andauernd ausschütten, die Heilung verlangsamen. Je ungleicher eine Gesellschaft, umso größer das Problem der Fettleibigkeit.

Die beiden britischen Universitätsprofessoren haben ein fulminantes Buch geschrieben, das Erkenntnisse der modernen "Glücksforschung" mit einer Fülle von Fakten unterlegt. Über weite Strecken ist das im nüchternen Ton der empirischen Sozialforschung gehalten, die Daten sprechen schließlich für sich, doch es ist auch ein engagiertes Buch. Nach Jahrzehnten der Ungleichmacherei müsse es nun wieder in die andere Richtung gehen, fordern die Autoren - und springen gleich auch aus der akademischen Rolle. Ganz im Stile des "engagierten Intellektuellen" rufen sie auf, eine, oder besser: viele Bewegungen für mehr Gleichheit zu begründen. Mehr Gleichheit ist mit kapitalistischen Marktwirtschaften vereinbar, unterstreichen sie immer wieder: Schließlich haben sie ja auch ihr "positives" Datenmaterial aus demokratischen Marktwirtschaften.

Und auch Trendwenden sind möglich: Wenn es ab Mitte der 1970er-Jahre wieder rasant in Richtung mehr Ungerechtigkeit ging, dann ist das ja ein Beweis dafür, dass es auch wieder ganz schnell in die andere Richtung gehen kann, so ihr raffiniertes Argument. Es liegt, schließen Wilkinson und Pickett etwas pathetisch, an jeden von uns, einen Wandel anzustoßen. Und: "It Doesn't Take a Revolution" - Es braucht dafür keine Revolution, aber "was wir brauchen, ist ein kontinuierlicher Fluss kleiner Veränderungen" mit dem Ziel: "Die Gesellschaft sozialer machen." Ein ganz, ganz wichtiges Buch, an dem künftig keiner mehr vorbeikann, der substanziell etwas zur anschwellenden "Sozialstaatsdebatte" oder auch zur "Bildungsdebatte" beitragen will. (Robert Misik/DER STANDARD, Printausgabe, 3.-5. 4. 2010)