Ted Gaier (von den "Goldenen Zitronen" ) und Claudia Basrawi über die theatralische Nostalgie-Reise von "400asa Sektion Nord" : "Pink Floyd waren im Berlin-Jahr 1990 der Klassenfeind!"

Foto: Christian Fischer

Krems - Mit dem millionenfach verkauften Pink-Floyd-Album The Wall (1979) zogen sich die letzten Dinosaurier der Hippie-Ära endgültig das Schweißband von der Stirn: Die Aussichten auf ein Zeitalter im Zeichen von Love, Peace and Happiness waren monumentalen Ego-Beschwerden gewichen. Welche Wand aber wurde am 21. Juli 1990 am Potsdamer Platz eingestürzt, als Vertreter der britischen Psychedelik-Kultur die Styroporziegel purzeln ließen? Als Hunderttausende glaubten, hier würde die Berliner Mauer ein zweites, unwiderrufliches Mal symbolisch umgestoßen?

1979 waren Pink Floyd endgültig zum Psycho-Vehikel ihres Bassisten Roger Waters geschrumpft. Dieser rekapitulierte in einem depressiven Songzyklus seine Herkunft aus dem britischen Klassensystem. Buben wie Roger wurden als Kanonenfutter für das Empire erzogen: Sie wurden nicht nur lieblos behandelt, sondern von ihren Vätern, die Spitfire-Flugzeuge flogen und alte Werte hochleben ließen, bis die Nazis sie abschossen, auch noch im Stich gelassen.

"Is there anybody out there!?" Ted Gaier - Gitarrist der als Punkband höchst unzureichend kategorisierten Goldenen Zitronen - und Claudia Basrawi sind beide Mitwirkende der Berliner Produktion 400asa Sektion Nord. Unter-titel: Der Sumpf. Europa Stunde Null. Eine Performance-Truppe rund um Regisseur Samuel Schwarz rekapituliert die Busfahrten eingefleischter Floyd-Fans anno 1990 nach Berlin. Der Bus - er fährt im Rahmen des Donaufestivals tatsächlich durch die Kremser Umgebung (6. bis 8. Mai, 20 Uhr, Stadtsaal) - ist ein entschleunigtes Projektil auf der Zeitachse. Wie schafft es die Jugendkultur nur, sich auf ihrer Butterfahrt in revolutionäre Verhältnisse derart fahrlässig zu verspäten? Als The Wall herauskam, hörte die aufgeklärte Community ja bereits London Calling von The Clash.

Ted Gaier lächelt milde: "London Calling war exakt die Platte, für die The Clash Ausverkauf vorgeworfen wurde! Es ist doch in der Tat so: Wer die Initialzündung von jugendlicher Rebellion erleben möchte, der benötigt das Glück, am richtigen Ort zu wohnen. Ich zum Beispiel bin in München aufgewachsen. Und eine Kulturrevolution wie Punk braucht ganz einfach Zeit, um sich mit ihren ,Issues‘ in das kollektive Bewusstsein einzuschreiben. Plötzlich sieht es in München 1981 so aus wie 1976 in London - die Verwertungsketten der Kulturindustrie brauchen einfach so lange, um sich anzuhängen."

Gnome und Ziegel

Ein monströser Akt der Zweit- oder Drittverwertung war auch Roger Waters' The Wall. Die Dinosaurier-Gruppe Pink Floyd war längst zerbrochen. "Progressive Rock" nannte man die damals konsensfähige Mischung aus Moll-getönter Sensibilität und schmählicher Lebensverneinung.

Gaier, der reflektierte Hamburger Punkrocker, der auf "Zitronen" -Konzerten schon einmal Kurt Weill spielt, sieht sich gespalten: Ist der Ruf von Pink Floyd heute noch zu retten? Die waren doch einmal toll, oder? Hatten in Syd Barrett einen wahnsinnigen Songwriter, der Ende der 1960er elektrifizierte Lautenlieder über Gnome schrieb - ehe er in einem Paralleluniversum hängenblieb. Worauf Waters und seine Freunde ein ums andere Mal ein Requiem auf ihren mental verschollenen Freund aufführten: Dark Side of the Moon, Wish You were here ...

Gaier sagt: "The Wall war Prog in seiner unscharfen, pseudo-surrealen Form - und außerdem Mainstream. Die Platte kam 1979 im Weihnachtsgeschäft heraus und hing an jeder Plakatwand. Sie galt in unseren Augen als abgeschmackt und kommerziell."

Die Busreise der Nachgeborenen ist eine mentale Wiederverwertung. Gezeigt werden Glorie und Elend derjenigen Landeier und Provinzheinis, die als amtliche Haschbrüder und leidgeprüfte Interrail-Pioniere nach Berlin segelten. Claudia Basrawi: "Es ist merkwürdig. Waters, der abgespaltene Pink-Floyd-Mann, dem die Rechte an The Wall gehörten, hielt in Berlin Einzug und gab im BBC-Fernsehen Interviews, in denen er sich über die sowjetischen Militärkapellen mokierte. Er war ganz aufgekratzt durch den realen Mauerfall - tat aber so, als stieße er auf Ureinwohner! Er richtete auf uns Berliner einen kolonisatorischen Blick zweiter Ordnung."

Ted Gaier ergänzt: "Wo waren wir alle eigentlich im Sommer 1990? Ich täte mir schwer, dieses Zeitfenster heute zu beschreiben. 1990 war das Jahr nach 1989, als die DDR zu Bruch ging. Zugleich begannen 1991 der erste Irakkrieg und die Jugoslawienkonflikte. Unser Theaterprojekt wird im schnellen Vor- und Rücklauf alle diese Probleme ansprechen." Hunderttausende erkannten an einem Sommertag 1990 im Marsch der Wall-Hämmer ihr eigenes Dilemma wieder. Kleinbürger, die Rockstars waren, intonierten die Hymne der globalen Ignoranz: "We don't need no education ..." Mit dem Soundtrack gescheiterter Architekturstudenten erhielt die wichtigste Umwälzung nach 1945 ihre unverwechselbare Signatur.

Gaier: "Wenn ich heute ,Wel-come to the Machine‘ von Floyd höre, aktiviert das bei mir, ob ich will oder nicht, ein Sentiment." Die Jugend hört immer noch Floyd - und nicht Eddie & the Hot Rods? Gaier schmunzelt: "Die Geschichte lügt eben nicht!" (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe 30.3.2010)