Auf einen Fingerzeig von Politpensionisten kann der Wiener Erzbischof verzichten, es stehe nämlich "allen gut an, Buße zu tun" - Drohenden Klagen sieht der Kardinal gelassen entgegen

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Standard: Es gibt treue Söhne der katholischen Kirche, die sagen, die Kirche befinde sich in einer Existenzkrise. Wie ernst nehmen Sie die Krise?

Schönborn: Ich sag es einmal ganz persönlich: Es geht mir schlecht. Ich lebe seit 65 Jahren in dieser Kirche, bin seit 55 Jahren aktiv in dieser Kirche, und ich liebe diese Kirche. Dann erleben zu müssen, dass es einerseits sehr schmerz- liche Wunden und sehr schmerzliches menschliches Versagen in dieser Kirche gibt, und andererseits sehen zu müssen, dass das, was mir an dieser Kirche so kostbar ist, von vielen Menschen nicht mehr gesehen wird, tut mir unheimlich weh. In aller Ehrlichkeit: Ich leide mit dieser Kirche.

Standard: Der ehemalige ÖVP- Vizekanzler Erhard Busek empfiehlt Kirchenoberen ein deutliches Zeichen der Buße - sie sollten unter anderem "auf Knien den Berg hinaufrutschen". Haben Sie sich schon gerüstet?

Schönborn: Ich bin es leid, wenn Politiker, die längst nicht mehr im Amt sind, uns Bischöfen ständig gute Ratschläge geben. Es steht uns allen gut an, Buße zu tun. Das Zweite Vaticanum hat klar gesagt: Wir sind alle Kirche. Und wenn es solch schmerzliche Ereignisse in einer Gemeinschaft gibt, muss sich jeder von uns fragen 'Wie steht's mit meinem persönlichen Glauben und meinem persönlichem sittlichem Leben'. In der Situation, in der wir uns zurzeit in unserem Land und in Europa befinden, ist es wichtig, dass wir nicht alles sündenbockmäßig auf die Kirche schieben. Die Frage ist, was braucht die Gesellschaft und die Kirche, um für das, was auf uns zukommt und reichlich schwierig sein wird, gerüstet zu sein.

Standard: Was braucht die katholische Kirche in der konkreten Situation, um an Glaubwürdigkeit wieder zu gewinnen?

Schönborn: Es geht nur der Weg der Wahrheit. Ein ehrlicher Weg des Hinschauens, was Opfern geschehen ist ...

Standard: Wo sehr lange vonseiten der Kirche ja weggeschaut wurde.

Schönborn: Ja, wo von vielen viel zu lange weggeschaut wurde. Es gibt nur den Weg der tätigen Reue. Stellvertretend auch für die, die Missbrauch begangen haben und vielleicht schon verstorben sind. Es geht nur über Wahrheit und Gerechtigkeit den Opfern gegenüber.

Standard: Warum ist man diesen Weg nicht schon früher gegangen?

Schönborn: Ich glaube, gesellschaftliche Entwicklungen sind meistens langfristige Vorgänge. Ein Beispiel: In meiner Volksschulzeit in den frühen 50er-Jahren - eine normale Dorfschule - hat der Schuldirektor vor meinen entsetzten Augen auf dem Rücken von gewissen Kindern durch Prügeln seinen Stock zerbrochen. Auch in meiner Gymnasialzeit, die immerhin erst im Jahr 1963 geendet hat, hat es Professoren gegeben, die geprügelt haben. Der Direktor hat es gewusst, die Lehrer, die Eltern. Getan hat niemand etwas. Ich kann mich sehr gut an das Gefühl der ohnmächtigen Wut über diesen Sadismus erinnern. Bitte in Österreich ist das Verbot von Ohrfeigen in der Schule 1989 gekommen. Und jetzt wird selektiv die Kirche angegriffen.

Standard: Das stimmt sicher auch. Tatsache ist aber, dass die Kirche jetzt im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Und jetzt taucht in diesem Zusammenhang plötzlich der Staat auf. Offensichtlich gibt es Überlegungen vonseiten der SPÖ, eine Schiedskommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs, Karl Korinek, einzurichten, die nicht nur Fälle aufarbeiten soll, sondern auch über etwaige Entschädigungen entscheiden soll. Was wissen Sie davon?

Schönborn: Ich weiß nur, dass es einen runden Tisch geben wird. Ich habe aber überhaupt nichts einzuwenden, wenn staatliche Kommissionen sich mit dem Thema Missbrauch umfassend beschäftigen. Nicht nur die Kirche, das erfordert die Gerechtigkeit. Eine staatliche Kommission wie etwa in Deutschland ist sicher begrüßenswert. Man muss aber bedenken, dass diese in manchen Belangen nicht so weit gehen kann, wie die kirchliche Gesetzgebung jetzt schon geht. Es gibt eine ganze Reihe von Fällen sexuellen Missbrauchs, die strafrechtlich verjährt sind, wo aber die Kirche auf jeden Fall scharfe Maßnahmen treffen muss.

Standard: Diskutiert wurde in den letzten Wochen auch über eine Anzeigenpflicht. Ist jetzt für die Fälle eine weltliche oder innerkirchliche Gerichtsbarkeit zuständig?

Schönborn: Man muss unterscheiden, es gibt Bereiche, in die die weltliche Justiz nicht hineinreicht. Etwa ein Missbrauch der Beichtsituation ist strafrechtlich für den Staat nicht relevant, für die Kirche aber höchst relevant. In der Frage der Anzeigepflicht erwarte ich mir eine Klärung durch den runden Tisch. Das ist eine Frage, die auch unter Juristen, Pädagogen und Psychologen umstritten ist. Einer Diskussion über eine Ausweitung der Anzeigenpflicht stehen wir offen gegenüber.

Standard: Der St. Pöltener Bischof Klaus Küng hat jüngst Zahlungen an Opfer bestätigt. Sind Entschädigungszahlungen jetzt einheitliche Linie der Kirche?

Schönborn: In Einzelfällen gab es immer eine finanzielle Unterstützung für Therapien. Wobei es bei solchen Zahlungen ganz klar sein muss, dass diese zweckgebunden sein müssen. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass die Fälle wie bisher individuell abzuhandeln sind.

Standard: Also keinen eigenen Opferfonds?

Schönborn: Vielleicht. Es bleibt aber für mich klar, dass im Normalfall die Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen - auch für eventuelle Zahlungen von Therapien.

Standard: Wenn aber eine Vertuschung stattgefunden hat, könnte möglicherweise auch eine Haftung der Kirche in Kraft treten.

Schönborn: Da sind wir in einem Bereich, in dem in unserer Gesellschaft viel in einem Klärungsprozess ist. Deshalb glaub ich auch, dass der runde Tisch auf der legislativen Seite weitere Entwicklungen bringen wird.

Standard: Heißt aber zusammengefasst, die Kirche wartet zu. Ein eigens umfassendes Lösungspaket gegen die Krise scheint es nicht zu geben - da und dort wird in die Löcher im Damm ein Finger hineingesteckt.

Schönborn: Wir haben zum Beispiel in der Erzdiözese Wien in den letzten 15 Jahren intensiv an diesem Thema gearbeitet. Seit der Causa Groër ist viel geschehen.

Standard: Man steht jetzt aber vor der heiklen Situation, dass zahlreiche Opfer auch bereit sind, die Kirche zu klagen, sollten nicht entsprechend hohe Entschädigungszahlungen entrichtet werden.

Schönborn: Wir leben nicht in Amerika. Und selbstverständlich wird sich die katholische Kirche an die österreichischen Gesetze halten.

Standard: Ist man bereit, hohe Entschädigungszahlungen zu leisten?

Schönborn: Das ist im Moment nicht Thema.

Standard: Viel Kritik erntete der Hirtenbrief des Papstes. Hätten Ihnen klare Worte auch zur österreichischen Situation nicht das Leben vor Ort erleichtert?

Schönborn: Es war ein Brief von wünschenswerter Klarheit. Wenn der Papst etwas für die irischen Bischöfe schreibt, gilt dies auch für Deutschland und Österreich, und da gibt es viel zu beherzigen.

Standard: Braucht es Veränderungen beim Zölibat oder der Priesterausbildung?

Schönborn: Ja, beides gut zu leben.

Standard: Das Christentum, nicht nur das katholische, steht weltweit unter Beschuss. Es gibt Christenverfolgungen etwa in Nigeria, im Nahen Osten. Wie geht man mit diesen Dingen um?

Schönborn: Die Situation ist echt dramatisch. Der Irakkrieg war eine Katastrophe für die Christen im Nahen Osten. Es wurde der Lebensraum der Christen auf dramatische Weise abgeschnürt. Wenn man bedenkt, dass allein in Saudi-Arabien eine Million Katholiken leben, die keinerlei Religionsfreiheit haben.

Standard: Sie wollten verfolgte irakische Christen nach Österreich bringen. Das ist Ihnen nicht gelungen.

Schönborn: Das ist ein äußerst beschämendes Kapitel. Die EU hat sich bereiterklärt, 10.000 Irak-Flüchtlinge aufzunehmen, Deutschland hat 2500 Menschen aufgenommen. Österreich hat keinen Einzigen aufgenommen. Das ist gescheitert an einer für mich völlig unverständlichen Politik.

Standard: Was läuft in der österreichischen Ausländerpolitik konkret falsch?

Schönborn: Es geht hier um die Immigrations-Politik, die in Österreich sträflich unterbelichtet ist. Österreich braucht Immigration, davon zu unterscheiden, ist die spezifische Situation der Asylanten, die auf ein elementares Menschenrecht pochen. Wenn sie an Leib und Leben bedroht sind, sollten sie in einem Rechtsstaat eine Schutzmöglichkeit finden. Die genaue Beobachtung der Asylpolitik ist ein Kapitel, ein anderes ist die Immigrationspolitik, die in Österreich unterentwickelt ist. Aus sehr transparenten politischen Ängsten traut sich niemand drüber - was ich für sehr kurzsichtig halte. (Markus Rohrhofer/DER STANDARD, Printausgabe, 27./28.3.2010)