"Stain Boy" sieht mit großen Augen in eine verrückte, grausame Welt, in der er selbst relativ normal erscheint.

Foto: Tim Burton

"Sie sollten hier jedem einen Joint zur Eintrittskarte aushändigen" , sagt ein Besucher, der sich inmitten einer dichten Menschentraube in ein weit aufgerissenes Maul mit spitzen Zähnen schiebt - und weiter, durch einen schmalen Gang mit mehreren Videoscreens, in New Yorks derzeit begehrteste Ausstellung.

Auf den Bildschirmen werden Kurzfilme über die Abenteuer einer im Waisenhaus lebenden Kreatur namens Stain Boy gezeigt. Eine Bewohnerin des Heims für ungeliebte Wesen hat so viele Augen, dass sie beim Weinen eine Überschwemmung anrichtet, ein anderer hat nur zwei Augen - in denen stecken allerdings lange glänzende Nägel. Die Stain-Boy-Zeichentrickfilme sind die ideale Aufwärmrunde auf dem Weg in die skurrile Welt des Tim Burton, eine Welt, in der allen Geschichten immer etwas Verspieltes, fast Liebes und zugleich etwas Düsteres, Grausames innewohnt. Die Protagonisten sind stets seltsame Typen, irgendwie "anders" .

Seltsamer Außenseiter

Auch ihr Erfinder, 1958 in der kalifornischen Stadt Burbank geboren, empfand sich in seiner Jugend als seltsamen, wenn auch talentierten Außenseiter. Seinem tiefschwarzen Humor und schillernden Zynismus begegnet man später in all seinen Animations- und Spielfilmen, von The Nightmare Before (1993) über Charlie und die Schokoladenfabrik (2005) bis zu seiner derzeit weltweit laufenden Alice im Wunderland.

Die - bisher umfassendste - Retrospektive über den Regisseur, Konzeptkünstler, Illustrator und Autor beweist das und zieht auch viele Wochen nach der Eröffnung die Massen an.

Im Museum of Modern Art (Moma) wird nicht nur das gesamte Filmschaffen Burtons gezeigt, sondern erstmals auch hunderte Zeichnungen und Skizzenbücher aus seiner Zeit am California Institute of the Arts und als Mitarbeiter der Animationsstudios von Walt Disney. Daneben werden fast ebenso viele Acryl- und Ölmalereien und neue bewegte Objekte ausgestellt. Kleine Geschichten oder Geheimnisse wohnen allen Arbeiten inne, den Zeichnungen ebenso wie den großen Installationen. Ein buntes Karussell dreht sich zu unheilverkündender Musik; und das mit bunten Lichterketten geschmückte Haus des Stain Boy überrascht, wenn man sich bückt und durch die kleinen Fenster blickt: Da wird gemordet, zufällig und sehr blutig.

Eine besondere Attraktion sind Originalfiguren aus Animationsstreifen sowie Versatzstücke und Kostüme aus Filmen wie Ed Wood, Batman (der Penguin-Kinderwagen) oder Sleepy Hollow (der Umhang des kopflosen Reiters). Apropos Ed Wood: Burtons Liebe zu Woods trashigen Filmen aus den 1950er- und 1960er-Jahren entstand nicht erst, als er selbst einen Film über Wood drehte.

Burton sah als Kind viele klassische US-Horrorfilme. Dass sie stilprägend waren, wird deutlich: Nicht nur in den Skizzen für erste Figuren, sondern auch in Kurzfilmen, die Burton als Kunststudent mit Studienkollegen drehte und in denen er selbst mitspielte. Irgendwie scheint sein Faible für Untote, für Wesen zwischen Diesseits und Jenseits, Realität und Traum daher zu rühren, dass er den Sprung in die nüchterne Welt der Erwachsenen nicht vollziehen wollte.

Doch Burton machte auch in der Gebrauchsgrafik früh von sich reden. Mit 15 gewann er seinen ersten Kunstpreis im Zuge einer Kampagne gegen die Verschmutzung der Straßen von Burbank. Danach zierte die Müllwagen das Sujet des Freaks, der heute Kultstatus hat. (Colette Schmidt aus New York/DER STANDARD, Printausgabe, 17. 3. 2010)